Ordnung ist der Feind der Freiheit

Interview mit unserem Regisseur Tom zu einem der zentralen Sätze aus dem neuen Stück „Krimhild – Nibelungen remixed

Brunhild überrascht Krimhild kurz vor der Hochzeit mit dem Imperativ „Ordnung ist der Feind der Freiheit“. Man stößt sich daran, da beide Begriffe hier feindlich gegenübergestellt werden.

Und das passt so gar nicht in unsere romantischen Vorstellungen von beiden Begriffen. Beides sind Ideale, nach denen wir durchaus streben. Ohne, dass wir Dinge einsortieren, können wir gar nicht denken und Freiheit zu leben, gilt als überragendes Ideal unser „freien“ Welt.

Wie kommt es dann zu der Feindlichkeit?

Es trifft wohlmöglich den Kern des Stücks. Brunhild lebt selbst eine stark ausgeprägte Freiheit in Island. Sie schert sich nicht an bestehenden Ordnungssystemen. Aber, und auch das gehört dazu, die Umgebung ist nicht wirklich wirtlich – oder besser formuliert – „sicher“. Das karge, wüste – aber freie – Island, ist für Brunhild der Ort, an dem es die uneingeschränkte Freiheit gibt zum Preis einer mangelnden Sicherheit. Nur das Stärkere setzt sich hier durch, für alles andere gibt es keine Sicherheiten. Sicherheit wiederum wird hergestellt durch Ordnung, die Regeln setzt.

Nehmen wir einmal den Straßenverkehr, der ein einfaches System ist und den Konflikt dennoch gut modellhaft zeigen kann: ein Straßensystem ohne Regeln, also die totale Freiheit jedes einzelnen, würde den begünstigen, der das stärkste Auto und die besten Fähigkeiten hat, sich hier durchzusetzen. Durch das Setzen von Regeln schränken wir diese Freiheit ein und ermöglichen dadurch aber ein Miteinander, also Sozialität.

Aber das ist doch erst einmal nicht verwerflich sondern wahrscheinlich begrüßenswert, dass Regeln unser soziales Miteinander definieren.

Absolut und es ist wahrscheinlich die kulturelle und am Ende auch evolutionäre Stärke des Menschen, sich eben ein Regelwerk zu setzen. Deswegen gibt es weltweit im Straßenverkehr Ampeln, deren ordnendem Prinzip wir uns unterwerfen, weil wir beobachten, dass diese Regeln uns als Gemeinschaft nach vorne bringen und die Nachteile der Einschränkung aufwiegen. Aber das sind eben keine Naturgesetze, sondern soziale Verhandlungen untereinander. Und je nachdem welchen kulturellen Hintergrund eine Gemeinschaft hat, müssen Regeln auch anders verhandelt werden.

Warum beschreibt Brunhild dann die Ordnung als Feind?

Ordnende Systeme sind statisch. Regelverstöße müssen geahndet werden, sonst wird die Regel (heute bei uns ja auch Verordnungen oder Gesetze genannt) beliebig. Also gibt es Ordnungshüter. Wenn Menschen nun über die Grenzen dieser Ordnung hinausgehen, geraten sie mit dem System, das die Regeln aufgestellt hat, in Konflikt. Eben weil ihr Wunsch nach Freiheit das System unter Stress setzt und es reagieren muss.

Aber ein regelloser Ort ist doch kein Ort, den man sich wünschen sollte.

Brunhilds Island ist in diesem Sinne bestimmt kein Sehnsuchtsort. Was aber deutlich wird ist, dass alle Figuren im Stück, nicht nur Brunhild, in dem Wormser Ordnungsprinzip gefangen sind. Alle stoßen sie an die Systemgrenzen und werden von dem System derart eingeengt, dass eine Entfaltung nicht möglich ist. Das Tragische also ist, dass hier ein zu strenges Ordnungsprinzip alle Figuren am Ende vernichtet.

Wie könnte denn eine Lösung aussehen?

Ich glaube das Wichtigste ist, dass man versteht, dass Regeln nicht naturgegeben oder sogar gottgegeben sind. Sondern sie sind Verhandlungssache. Und es ist wichtig immer wieder zu prüfen, ob eine Regel, ein Gesetz und eine Verordnung tatsächlich sinnbehaftet ist oder am Ende Leben zerstört. Viele der Strukturen in Worms müssen nicht sein. Sie waren bestimmt einmal gut, aber wenn sie nicht mehr reichen, die Problemstellungen zu bewältigen, muss eine Gesellschaft in der Lage sein, diese zu verändern.

Dass Regeln nicht gottgegeben sind, dass würde manch eine Religion anders sehen.

Manch eine vielleicht, das Christentum dürfte es nicht. Was wir in der Bibel immer wieder sehen ist, dass Anführer, wie zum Beispiel Moses, Regeln aufstellen, um soziales Miteinander zu ermöglichen (die 10 Gebote zum Beispiel). Die Idee ist einfach: gib einen Rahmen der unser Zusammenleben so regelt, dass wir uns als Gemeinschaft entfalten können. Die 10 Gebote sind dann immer weiter ausgerabeitet worden und Numeri und Deuteronmium sind eine Explosion von Regeln und Vorschriften, die den deutschen Verordnungswahn im nichts nachsteht. Was hat Jesus gemacht? Er hat sie nicht in Frage gestellt ABER gesagt, dass sich all diese Regeln doch bitte immer an den beiden zentralen Geboten orientieren und messen lassen müssen: Ehre deinen Gott und liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Ist eine Verordnung in diesem Sinne „verfassungswidrig“, gehört sie ins Archiv und abgeschafft.

Nun ist „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ja reichlich offen.

Und es kommt darauf zurück, was ich zuvor meinte: die Regeln müssen sich an den Werten der Gemeinschaft orientieren. Und da sich Werte wandeln können, müssen sie von Zeit zu Zeit geändert werden. Regeln dürfen keinen Absolutheitsanspruch haben. Und es gibt eine Frage, mit der sich unsere Gesellschaft viel stärker beschäftigen muss, als alles andere: in welcher Welt wollen wir eigentlich leben, das heißt, auf Basis welcher Werte wollen wir unsere Gesellschaft aufbauen. Ist für uns Konsum ein Wert? Offensichtlich, denn die Freiheit des Konsums scheint alles andere zu übersteigen. Aber liegen wir damit richtig? Oder müssen wir nicht neue Werte verhandeln? Und auch hier gibt das Christentum eine klare Richtlinie: Maßgabe soll immer der menschliche Umgang sein, denn das System soll dem Menschen nutzen und nicht der Mensch dem System.

Das Stück endet in der totalen Vernichtung. Wie kann es helfen, neue Werte zu verhandeln?

Das entscheidende bei der Tragödie ist, dass unser Scheitern uns vor Auge geführt wird. Im Scheitern der Figuren sehen wir unser eigenes Scheitern. Aber die Figuren simulieren nur einen Weg. Häufig haben wir beim Schreiben gesagt, wenn sie oder er jetzt hier doch nur anders gehandelt hätte, dann wäre die Tragödie zu verhindern gewesen. Aber wir hätten auch nichts zu erzählen gehabt. Und wir hätten nichts lernen können. Denn aus dem Scheitern der Figuren können wir hoffentlich für uns Schlüsse ziehen, die uns helfen unser Wertesystem zu pflegen und die uns umgebende Ordnung stets kritisch zu hinterfragen.

Weitere Gedanken zum Stück: Die Waffe einer Frau / Vater Rhein / Mann über Bord