von Christoph Drösser in ZEIT Nr. 06/2024
Mehr als 1.500 Menschen sind beim Untergang der Titanic im Jahr 1912 ums Leben gekommen. Die meisten der Opfer befanden sich auf dem Schiff, als es sank. Das Wrack, 1985 entdeckt, liegt in 3.800 Meter Tiefe auf dem Meeresgrund. Seitdem haben viele Tauchfahrten zur Unglücksstelle stattgefunden. Allein James Cameron, der Regisseur des Titanic-Films, hat das Schiff 33-mal mit einer Tauchkapsel erkundet. Aber auf keinem der Bilder vom Wrack sind Leichenteile zu sehen. Und das nicht aus Gründen der Pietät: „Wir haben Kleidungsstücke gesehen, wir haben Schuhe gesehen. Aber wir haben niemals menschliche Überreste gesehen“, erzählte Cameron im Jahr 2012 der New York Times.
Dass die weichen Teile des menschlichen Körpers sich in dieser langen Zeit im Wasser auflösen oder von Meeresbewohnern gefressen werden, ist plausibel. Aber was ist mit den Knochen? Im Wrack der Vasa, die auf ihrer Jungfernfahrt 1628 in der Ostsee sank, wurden nach über 300 Jahren Skelette gefunden. Was also geschah mit den toten Passagieren der Titanic?
Unsere Knochen bestehen zum großen Teil aus Kalziumverbindungen. Und deren Löslichkeit im Meerwasser hängt stark von der Wassertiefe ab. In flacheren Gewässern wie der Ostsee erhalten sich Knochen sehr gut. Sie sinken zu Boden und bilden dort Sedimente.
Aber unterhalb einer bestimmten Tiefe beginnen sich Kalziumverbindungen viel stärker aufzulösen als weiter oben. Lysokline nennt man diese Wassertiefe, im äquatorialen Bereich des Pazifiks liegt sie bei etwa vier Kilometer Tiefe, im Atlantik bei etwa fünf. Jeweils noch ein paar Hundert Meter tiefer befindet sich die Karbonat-Kompensationstiefe, eine Grenzfläche, unterhalb derer sich gar keine Karbonat-Sedimente mehr bilden. Wie tief genau diese Grenze verläuft, hängt von vielen Faktoren ab, einige Kilometer sind es in jedem Fall.
Das Titanic-Wrack mit seinen 3.800 Metern liegt in einer Region, in der Knochen beschleunigt abgebaut werden. Deshalb kann man annehmen, dass sich die sterblichen Überreste der Passagiere mit den Jahrzehnten restlos aufgelöst haben.
Auch wenn der Titanic-Entdecker Robert Ballard spekuliert, dass sich in Hohlräumen des Wracks unter besonderen Bedingungen noch Überreste befinden könnten – die Wissenschaft spricht dagegen.