Ein spirtueller Impuls zum „Der Glöckner von Notre Dame“ von Sonja Angelika Strube aus Frau und Mutter 10/2020
Da traten Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, zu ihm und sagten: Meister, wir möchten, dass du uns eine Bitte erfüllst.
Er antwortete: Was soll ich für euch tun? Sie sagten zu ihm: Lass in deiner Herrlichkeit einen von uns rechts und den andern links neben dir sitzen! […] Als die zehn anderen Jünger das hörten, wurden sie sehr ärgerlich über Jakobus und Johannes.
Da rief Jesus sie zu sich und sagte: Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrückenund ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondernbum zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.
Mk 10, 35 – 45
Ausgewählt habe ich einige Verse aus dem Markusevangelium (Mk 10, 35 -45), die Kirche und Gesellschaft herausfordern. Auch dem Evangelium selbst scheinen diese Verse besonders wichtig gewesen zu sein, denn gleich zweimal kurz hintereinander wird geschildert, dass Jesus die Zwölf über das Dienen belehrt: „Wer unter euch der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.“
Auf den ersten Blick könnte dies wie eine Aufforderung wirken, negativ über sich selbst zu denken, sich zu zerknirschen, klein zu machen und zu demütigen. Welches befreiende Potenzial, gerade für Frauen, sollte von so einem Satz ausgehen? Tatsächlich jedoch birgt dieser Satz sehr viel Sprengkraft: Er de- legitimiert die Macht der Mächtigen und stellt die patriarchale Herrschaftsordnung seiner Zeit infrage.
Die Szenerie, die das Markusevangelium schildert, ist folgende: Mit seinen Jüngern – und Jüngerinnen, wie wir später in Mk 15,40f erfahren – befindet sich Jesus auf dem Weg von Galiläa nach Jerusalem. Diesen Weg nutzt Jesus, um den engsten Kreis einzuweihen in den Sinn seines Leidens, das Geheimnis seiner Auferstehung und das Wesen wahrer Nachfolge. Manche Belehrungen ergehen an alle Jünger und Jüngerinnen, manche nur an einige. Die Belehrungen über das Dienen richten sich ausdrücklich an die Gruppe der zwölf namentlich genannten Männer, die Jesus zu Beginn seines Wirkens in die Nachfolge gerufen hat (Mk 3,13-19). In Jesu Abwesenheit hatten sie unterwegs miteinander darüber gesprochen, wer unter ihnen der Größte sei. Ihrem Miteinander-Konkurrieren und ihrem Streben nach Dominanz aber erteilt Jesus eine klare Absage. Mehr noch: Ein machtloses Kind stellt er ihnen als Vorbild vor (9,33-37).
Doch nur kurze Zeit später wiederholt sich die Szene geradezu. Nun erbitten Jakobus und Johannes das Vorrecht, in Jesu Herrlichkeit die Ehrenplätze einnehmen zu dürfen (10,35-40). Ein zweites Mal muss Jesus mit fast gleichlautenden Worten ihnen und den übrigen zehn erklären, dass die Maßstäbe Gottes andere sind als die der Mächtigen der Welt (10,41-45). Mit wenigen Pinselstrichen stellen diese Worte ihren antiken Hörerinnen und Hörern die damals geltende hierarchische Gesellschaftsordnung wie eine „Herrschaftspyramide“ vor Augen: Ganz oben stehen die Herrscher, die ihre Macht willkürlich einsetzen können, ohne sich an Recht und Gesetz zu halten, direkt darunter „ihre Großen“, die vor Ort Gewaltherrschaft ausüben. Ganz unten in der Herrschaftspyramide stehen die Diener und Sklaven – noch weiter unten die Dienerinnen und Sklavinnen. Ganz unten standen damals auch die Kinder. Das Kind, das Jesus in die Mitte stellt, ist also nicht Sinnbild für „kindliche Unschuld“, kindliches Vertrauen oder gar Frohsinn und Leichtigkeit, sondern für Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit.
Mit ihm stellt Jesus die Kleinen, Ohnmächtigen und Bedeutungslosen ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Wenn Jesus fordert „bei euch aber soll es nicht so sein“, sagt er damit: Genau diese weltliche Herrschaftspyramide soll unter Jesusnachfolgern und-nachfolgerinnen nicht gelten. Die, die nach Dominanz streben, sollen sich nach ganz unten begeben. Die, die in der Gesellschaft wenig gelten, sollen unter Christen und Christinnen viel gelten. Vorbild dieser Haltung ist Jesus selbst: Er, der bei Gott so angesehen ist, dass ihm „die Engel dienen“ (wie Mk 1,13 erzählt), ist gekommen, um zu dienen und sein Leben als Lösegeld zu geben. Radikaler kann man eine Herrschaftspyramide nicht auf den Kopf stellen.
Während es die Zwölf (auch als Repräsentanten späterer Gemeindeleiter) offensichtlich nötig haben, überdas Dienen belehrt zu werden, sagt das Evangelium über die Frauen in der Nachfolge Jesu ausdrücklich, dass sie einfach verwirklichen, was Jesus gerade von den Mächtigen und Dominanten verlangt: Sie folgen Jesus nach und dienen ihm (Mk 15,40f).
Die Jüngerinnen, die Jesus bis zum Kreuz begleiten, als sich die Zwölf schon längst feige aus dem Staub gemacht hatten, sind Vorbilder wahrer Nachfolge – ebenso wie schon zu Beginn des Evangeliums die Schwiegermutter des Simon Petrus (Mk 1,31).
Grund genug, danach zu fragen, was es heute für uns Christinnen und Christen zu bedeuten hat: für unser Engagement inmitten einer immer noch und immer wieder machtbesessenen Welt, mit Blick auf gewalttätigen und auf strukturellen Rassismus, auf Flucht und Vertreibung, auf einen rasant fortschreitenden menschengemachten Klimawandel, der gerade die Armen der Welt noch mehr an den Rand drängt. Grund genug auch, danach zu fragen, was es zu bedeuten hat für die Strukturen unserer Kirche.