Über das Böse

Phoebus, der Hauptmann der Stadtwache in Paris, ist in unserer Version anders gezeichnet als in Victor Hugos Original. „Unser“ Phoebus entscheidet sich „falsch“ und nimmt damit das Leid, das Esmeralda, die er eigentlich liebt, wissentlich in Kauf. Moralisch nennt man sein Verhalten „böse“. Die Philosophin Hannah Arendt hat in ihrer Vorlesung „Über das Böse“ einen Gedanken entwickelt, der dieses Verhalten von Phoebus moraltheoretisch gut beschreibt.

Text aus Hannah Arendt, „Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik“, München, 2006

Schließlich wollen wir uns [in diesem Zusammenhang] an die wenigen Hinweise erinnern, die ich zu der Frage, wie das Problem des Bösen vom Standpunkt dieser streng genom­men philosophischen Art von Moral aussieht, gegeben habe. Das Böse – wenn hinsichtlich des Selbst und des denkenden Austausches zwischen mir und mir selbst bestimmt – bleibt formal, so inhaltsleer wie Kants kategorischer Imperativ, Jessen Formalismus seine Kritiker so oft in Rage versetzt hat. Wenn Kant sagte: Jede Maxime, die kein universal gül­tiges Gesetz werden kann, ist Unrecht, so ist das, als hätte Sokrates gesagt, jede Tat sei Unrecht, mit deren Urheber ich nicht mehr Zusammenleben könne. Im Vergleich scheint Kants Aussage weniger formal und sehr viel strenger zu sein; Diebstahl und Mord, Fälschung und falsches Zeugnis Ablegen werden mit gleicher Härte untersagt. Die Frage, ob ich nicht lieber mit einem Dieb als mit einem Mörder Zu­sammenleben möchte; ob ich vielleicht einen Fälscher be­trächtlich weniger gern hätte als jemanden, der eine falsche Zeugenaussage gemacht hat, etc., wird nicht einmal gestellt. Der Grund für diesen Unterschied liegt auch darin, daß Kant – trotz gegenteiliger Beteuerungen – eben doch nicht genau zwischen Legalität und Moralität trennte und daß er Moralität ohne Vermittlungen zur Quelle des Gesetzes ma­chen wollte, so daß der Mensch, wo immer er hinging und was immer er tat, sein eigener Gesetzgeber, eine völlig auto­nome Person war. In Kants Aussage ist das Böse dasselbe, ob es den Menschen zum Dieb oder zum Mörder macht; es handelt sich um die gleiche unheilvolle Schwäche in der menschlichen Natur. Ein weiteres und selbstverständlich sehr gewichtiges Beispiel dafür, daß Übertretungen aufge­listet und nicht entsprechend ihrer Schwere bewertet wer­den, ist der Dekalog, von dem auch angenommen wurde, daß er die Grundlage der im Land geltenden Rechtsordnung gewesen ist.

Nun ist wahr, daß Sie, wenn Sie nur die eine der drei Sokratischen Aussagen nehmen (es ist besser, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun), dann die gleiche merkwürdige Gleichgültigkeit gegenüber möglichen Abstufungen des Bösen finden; doch dieser Eindruck schwindet, wenn Sie dieses zweite Kriterium [, das] des Mit-sich-selbst-Lebens[,] hinzufügen, wie wir es hier getan haben. Denn dieses ist, im Unterschied zum rechtlichen, ein rein moralisches Prinzip. Was den Handelnden angeht, so kann er nicht mehr sagen als: »Das kann ich nicht tun«, oder wenn er die Tat bereits ausgeführt hat: »Dies hätte ich niemals tun dürfen«, wo­mit er andeutet, daß er schon vorher Unrecht getan haben könnte, jedoch ohne unheilvolle Folgen. An diesem Punkt ergibt sich ein Unterschied zwischen jener Art von Über­tretungen, mit denen wir täglich zu tun haben und von de­nen wir wissen, wie wir mit ihnen klarkommen oder sie entweder durch Bestrafung oder Vergebung loswerden kön­nen, und solchen Straftaten, von denen wir nur noch sagen können: »Das hätte nie geschehen dürfen«. Von dieser Be­hauptung aus ist es nur noch ein Schritt zu der Schluß­folgerung, daß wer immer solches tat, niemals hätte geboren werden sollen.42 Diese Unterscheidung ist offenbar sehr ähnlich derjenigen, die Jesus von Nazareth zwischen Über­tretungen macht, die ich »am Tage sieben Mal« vergeben soll, und jenen Straftaten, hinsichtlich derer es besser für den Täter wäre, »daß ein Mühlstein an seinen Hals gehänget und er ersäuft würde im Meer«43.

Zu diesen Aussprüchen gibt es für unseren Zusammen­hang zwei Dinge, die besonders vielsagend sind. Zunächst: Das [griechische] Wort, das für Straftat benutzt wird, ist ikandalon«, womit ursprünglich eine Falle, die man seinen einden stellte, gemeint war, und das hier für das hebräische Wort »mikshol« oder »zur mikshol«, Stolperstein, gebraucht wird. Diese Unterscheidung zwischen bloßen Übertretun­gen und diesen tödlichen Stolpersteinen scheint auf mehr hinzuweisen als die gegenwärtig gebräuchliche Unterschei­dung zwischen läßlichen Sünden und Todsünden; sie weist darauf hin, daß diese Stolpersteine nicht, wie es für die Über­tretungen gilt, aus unserem Weg geräumt werden können. Zweitens und nur scheinbar nicht mit dieser Textinterpre­tation vereinbar, notieren Sie bitte, daß [es heißt,] es wäre »ihm«,für ihn, besser gewesen, wenn er nie geboren worden wäre; denn das legt es nahe, die Bemerkung so zu lesen, als hätte sich der Täter der Straftat, für deren Wesen nichts wei­ter angegeben wird, als daß sie ein unüberwindbares Hin­dernis sei, selbst ausgelöscht.

Doch soweit wir auch gedanklich die Folgen ausspinnen mögen, welche diesen wenigen Behauptungen innewohnen, die in der einen oder anderen Weise noch immer die einzi­gen Einsichten sind, auf die wir bei unserer Suche nach der Natur des Bösen zurückgreifen können – eines ist nicht zu leugnen, nämlich die höchst persönliche und, wenn Sie so wollen, sogar subjektive Beschaffenheit all der Kriterien, die ich Ihnen vorgelegt habe. Hierbei handelt es sich möglicher­weise um den angreifbarsten Aspekt meiner Betrachtungen, und ich werde darauf in der nächsten Vorlesung zurück­kommen, wenn ich das Wesen des Urteils erörtere. Lassen Sie mich heute, sozusagen zur Selbstverteidigung, nur zwei Äußerungen erwähnen, die im wesentlichen den gleichen Gedanken aussprechen. Selbst wenn sie aus unvereinbare1 Quellen und von zwei grundverschiedenen Männern stammen, mögen sie Ihnen vielleicht einen Hinweis darauf ge­ben, worauf es mir ankommt. Die erste meiner Äußerungen stammt von Cicero und die zweite von Meister Eckhart, dem großen Mystiker des 14. Jahrhunderts. Cicero erörtert in seinen Gesprächen in Tusculum gegensätzliche Meinun­gen von Philosophen zu bestimmten Themen, die uns hier nicht zu interessieren brauchen. Und als er dazu kommt, entscheiden zu müssen, welche richtig und welche falsch sind, führt er plötzlich und recht unerwartet ein vollkom­ men anderes Kriterium ein. Er läßt die Frage nach der ob­jektiven Wahrheit fallen und sagt: Wenn ich zwischen den Meinungen der Pythagoräer und der Platos zu wählen habe, würde ich »beim Gott eher mit Plato auf Abwege geraten wollen, als mit diesen Leuten wahre Auffassungen vertre­ten«. Und er läßt seinen Gesprächspartner das noch einmal betonen: Auch er würde nicht das geringste dagegen haben, mit einem solchen Mann auf Abwege zu geraten und zu irren. Noch erstaunlicher als diese nur polemische Aussage ist eine von Eckhart, die, offen gesagt, häretisch ist. Sie fin­det sich in einem der sogenannten Sprüche, die erhalten sind (und bei denen es sich eigentlich um Anekdoten handelt). Eckhart hat angeblich den glücklichsten Mann getroffen, der aber, wie sich herausstellt, ein Bettler ist. Es wird hin und her argumentiert, bis schließlich der Bettler gefragt wird, ob er sich auch dann noch für glücklich hielte, wenn er sich in der Hölle wiederfände. Und der Bettler, der seine Argumente auf seine Liebe zu Gott gestützt hat und auf die Annahme, daß er alles, was er liebe, bei sich habe, antwor­tet: O ja, »ich wäre lieber in der Hölle mit Gott als ohne ihn im Himmel«. Das Entscheidende ist, daß beide, Cicero und Eckhart, darin übereinstimmen, daß es einen Punkt gibt, an dem alle objektiven Maßstäbe (die Wahrheit, die Belohnungen und Strafen in einem Jenseits etc.) ihre Vor­herrschaft zugunsten dieses »subjektiven« Kriteriums – der Art von Person, mit der ich Zusammensein und leben möchte – abgeben.

Wenn wir unter Verwendung dieser Aussprüche die Frage nach der Natur des Bösen stellten, würde das darauf hinaus aufen, daß eher der Täter und das Wie seiner Tat bestimmt würde als die Tat selbst oder deren endgültige Folge. Und Sie werden diese Verschiebung von dem objektiven Was einer getan hat zu dem subjektiven Wer des Täters als Randge­gebenheit selbst in unserem Rechtssystem finden. Denn es stimmt zwar, daß wir jemanden für das verurteilen, was er tat, doch ebenso wahr ist, daß diese Tat nicht mehr in Betracht gezogen wird, wenn man den Mörder begnadigt. Nicht der Mord wird vergeben, sondern dem, der getötet hat, seiner Person, wie sie in Anbetracht der Umstände und Absichten erscheint. Das Lästige an den Nazi-Verbrechern war gerade, daß sie willentlich auf alle persönlichen Eigen­schaften verzichteten, als ob dann niemand mehr übrig­bliebe, der entweder bestraft oder dem vergeben werden könnte. Immer und immer wieder beteuerten sie, niemals etwas aus Eigeninitiative getan zu haben; sie hätten keine wie auch immer gearteten guten oder bösen Absichten ge­habt und immer nur Befehle befolgt.

Um es anders zu sagen: Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemanden getan wurde, das heißt, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein. Im konzeptionellen Rahmen dieser Betrachtungen könnten wir feststellen, daß Übeltäter, die sich weigern, selbst dar­über nachzudenken, was sie am, und die sich auch im Nachhinein gegen das Denken wehren – also sich weigern, zurückzugehen und sich an das zu erinnern, was sie taten (wobei es sich um »teshuvah« oder Reue handelt) -, es eigentlich versäumt haben, sich als ein Jemand zu konstitu­ieren. Indem sie sturköpfig ein Niemand bleiben, erweisen sie sich als unfähig, mit Anderen zu kommunizieren, die, ob nun gut, böse oder in dieser Hinsicht unbestimmbar, zumindest aber Personen sind.