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Über das Böse

Phoebus, der Hauptmann der Stadtwache in Paris, ist in unserer Version anders gezeichnet als in Victor Hugos Original. „Unser“ Phoebus entscheidet sich „falsch“ und nimmt damit das Leid, das Esmeralda, die er eigentlich liebt, wissentlich in Kauf. Moralisch nennt man sein Verhalten „böse“. Die Philosophin Hannah Arendt hat in ihrer Vorlesung „Über das Böse“ einen Gedanken entwickelt, der dieses Verhalten von Phoebus moraltheoretisch gut beschreibt.

Text aus Hannah Arendt, „Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik“, München, 2006

Schließlich wollen wir uns [in diesem Zusammenhang] an die wenigen Hinweise erinnern, die ich zu der Frage, wie das Problem des Bösen vom Standpunkt dieser streng genom­men philosophischen Art von Moral aussieht, gegeben habe. Das Böse – wenn hinsichtlich des Selbst und des denkenden Austausches zwischen mir und mir selbst bestimmt – bleibt formal, so inhaltsleer wie Kants kategorischer Imperativ, Jessen Formalismus seine Kritiker so oft in Rage versetzt hat. Wenn Kant sagte: Jede Maxime, die kein universal gül­tiges Gesetz werden kann, ist Unrecht, so ist das, als hätte Sokrates gesagt, jede Tat sei Unrecht, mit deren Urheber ich nicht mehr Zusammenleben könne. Im Vergleich scheint Kants Aussage weniger formal und sehr viel strenger zu sein; Diebstahl und Mord, Fälschung und falsches Zeugnis Ablegen werden mit gleicher Härte untersagt. Die Frage, ob ich nicht lieber mit einem Dieb als mit einem Mörder Zu­sammenleben möchte; ob ich vielleicht einen Fälscher be­trächtlich weniger gern hätte als jemanden, der eine falsche Zeugenaussage gemacht hat, etc., wird nicht einmal gestellt. Der Grund für diesen Unterschied liegt auch darin, daß Kant – trotz gegenteiliger Beteuerungen – eben doch nicht genau zwischen Legalität und Moralität trennte und daß er Moralität ohne Vermittlungen zur Quelle des Gesetzes ma­chen wollte, so daß der Mensch, wo immer er hinging und was immer er tat, sein eigener Gesetzgeber, eine völlig auto­nome Person war. In Kants Aussage ist das Böse dasselbe, ob es den Menschen zum Dieb oder zum Mörder macht; es handelt sich um die gleiche unheilvolle Schwäche in der menschlichen Natur. Ein weiteres und selbstverständlich sehr gewichtiges Beispiel dafür, daß Übertretungen aufge­listet und nicht entsprechend ihrer Schwere bewertet wer­den, ist der Dekalog, von dem auch angenommen wurde, daß er die Grundlage der im Land geltenden Rechtsordnung gewesen ist.

Nun ist wahr, daß Sie, wenn Sie nur die eine der drei Sokratischen Aussagen nehmen (es ist besser, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun), dann die gleiche merkwürdige Gleichgültigkeit gegenüber möglichen Abstufungen des Bösen finden; doch dieser Eindruck schwindet, wenn Sie dieses zweite Kriterium [, das] des Mit-sich-selbst-Lebens[,] hinzufügen, wie wir es hier getan haben. Denn dieses ist, im Unterschied zum rechtlichen, ein rein moralisches Prinzip. Was den Handelnden angeht, so kann er nicht mehr sagen als: »Das kann ich nicht tun«, oder wenn er die Tat bereits ausgeführt hat: »Dies hätte ich niemals tun dürfen«, wo­mit er andeutet, daß er schon vorher Unrecht getan haben könnte, jedoch ohne unheilvolle Folgen. An diesem Punkt ergibt sich ein Unterschied zwischen jener Art von Über­tretungen, mit denen wir täglich zu tun haben und von de­nen wir wissen, wie wir mit ihnen klarkommen oder sie entweder durch Bestrafung oder Vergebung loswerden kön­nen, und solchen Straftaten, von denen wir nur noch sagen können: »Das hätte nie geschehen dürfen«. Von dieser Be­hauptung aus ist es nur noch ein Schritt zu der Schluß­folgerung, daß wer immer solches tat, niemals hätte geboren werden sollen.42 Diese Unterscheidung ist offenbar sehr ähnlich derjenigen, die Jesus von Nazareth zwischen Über­tretungen macht, die ich »am Tage sieben Mal« vergeben soll, und jenen Straftaten, hinsichtlich derer es besser für den Täter wäre, »daß ein Mühlstein an seinen Hals gehänget und er ersäuft würde im Meer«43.

Zu diesen Aussprüchen gibt es für unseren Zusammen­hang zwei Dinge, die besonders vielsagend sind. Zunächst: Das [griechische] Wort, das für Straftat benutzt wird, ist ikandalon«, womit ursprünglich eine Falle, die man seinen einden stellte, gemeint war, und das hier für das hebräische Wort »mikshol« oder »zur mikshol«, Stolperstein, gebraucht wird. Diese Unterscheidung zwischen bloßen Übertretun­gen und diesen tödlichen Stolpersteinen scheint auf mehr hinzuweisen als die gegenwärtig gebräuchliche Unterschei­dung zwischen läßlichen Sünden und Todsünden; sie weist darauf hin, daß diese Stolpersteine nicht, wie es für die Über­tretungen gilt, aus unserem Weg geräumt werden können. Zweitens und nur scheinbar nicht mit dieser Textinterpre­tation vereinbar, notieren Sie bitte, daß [es heißt,] es wäre »ihm«,für ihn, besser gewesen, wenn er nie geboren worden wäre; denn das legt es nahe, die Bemerkung so zu lesen, als hätte sich der Täter der Straftat, für deren Wesen nichts wei­ter angegeben wird, als daß sie ein unüberwindbares Hin­dernis sei, selbst ausgelöscht.

Doch soweit wir auch gedanklich die Folgen ausspinnen mögen, welche diesen wenigen Behauptungen innewohnen, die in der einen oder anderen Weise noch immer die einzi­gen Einsichten sind, auf die wir bei unserer Suche nach der Natur des Bösen zurückgreifen können – eines ist nicht zu leugnen, nämlich die höchst persönliche und, wenn Sie so wollen, sogar subjektive Beschaffenheit all der Kriterien, die ich Ihnen vorgelegt habe. Hierbei handelt es sich möglicher­weise um den angreifbarsten Aspekt meiner Betrachtungen, und ich werde darauf in der nächsten Vorlesung zurück­kommen, wenn ich das Wesen des Urteils erörtere. Lassen Sie mich heute, sozusagen zur Selbstverteidigung, nur zwei Äußerungen erwähnen, die im wesentlichen den gleichen Gedanken aussprechen. Selbst wenn sie aus unvereinbare1 Quellen und von zwei grundverschiedenen Männern stammen, mögen sie Ihnen vielleicht einen Hinweis darauf ge­ben, worauf es mir ankommt. Die erste meiner Äußerungen stammt von Cicero und die zweite von Meister Eckhart, dem großen Mystiker des 14. Jahrhunderts. Cicero erörtert in seinen Gesprächen in Tusculum gegensätzliche Meinun­gen von Philosophen zu bestimmten Themen, die uns hier nicht zu interessieren brauchen. Und als er dazu kommt, entscheiden zu müssen, welche richtig und welche falsch sind, führt er plötzlich und recht unerwartet ein vollkom­ men anderes Kriterium ein. Er läßt die Frage nach der ob­jektiven Wahrheit fallen und sagt: Wenn ich zwischen den Meinungen der Pythagoräer und der Platos zu wählen habe, würde ich »beim Gott eher mit Plato auf Abwege geraten wollen, als mit diesen Leuten wahre Auffassungen vertre­ten«. Und er läßt seinen Gesprächspartner das noch einmal betonen: Auch er würde nicht das geringste dagegen haben, mit einem solchen Mann auf Abwege zu geraten und zu irren. Noch erstaunlicher als diese nur polemische Aussage ist eine von Eckhart, die, offen gesagt, häretisch ist. Sie fin­det sich in einem der sogenannten Sprüche, die erhalten sind (und bei denen es sich eigentlich um Anekdoten handelt). Eckhart hat angeblich den glücklichsten Mann getroffen, der aber, wie sich herausstellt, ein Bettler ist. Es wird hin und her argumentiert, bis schließlich der Bettler gefragt wird, ob er sich auch dann noch für glücklich hielte, wenn er sich in der Hölle wiederfände. Und der Bettler, der seine Argumente auf seine Liebe zu Gott gestützt hat und auf die Annahme, daß er alles, was er liebe, bei sich habe, antwor­tet: O ja, »ich wäre lieber in der Hölle mit Gott als ohne ihn im Himmel«. Das Entscheidende ist, daß beide, Cicero und Eckhart, darin übereinstimmen, daß es einen Punkt gibt, an dem alle objektiven Maßstäbe (die Wahrheit, die Belohnungen und Strafen in einem Jenseits etc.) ihre Vor­herrschaft zugunsten dieses »subjektiven« Kriteriums – der Art von Person, mit der ich Zusammensein und leben möchte – abgeben.

Wenn wir unter Verwendung dieser Aussprüche die Frage nach der Natur des Bösen stellten, würde das darauf hinaus aufen, daß eher der Täter und das Wie seiner Tat bestimmt würde als die Tat selbst oder deren endgültige Folge. Und Sie werden diese Verschiebung von dem objektiven Was einer getan hat zu dem subjektiven Wer des Täters als Randge­gebenheit selbst in unserem Rechtssystem finden. Denn es stimmt zwar, daß wir jemanden für das verurteilen, was er tat, doch ebenso wahr ist, daß diese Tat nicht mehr in Betracht gezogen wird, wenn man den Mörder begnadigt. Nicht der Mord wird vergeben, sondern dem, der getötet hat, seiner Person, wie sie in Anbetracht der Umstände und Absichten erscheint. Das Lästige an den Nazi-Verbrechern war gerade, daß sie willentlich auf alle persönlichen Eigen­schaften verzichteten, als ob dann niemand mehr übrig­bliebe, der entweder bestraft oder dem vergeben werden könnte. Immer und immer wieder beteuerten sie, niemals etwas aus Eigeninitiative getan zu haben; sie hätten keine wie auch immer gearteten guten oder bösen Absichten ge­habt und immer nur Befehle befolgt.

Um es anders zu sagen: Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemanden getan wurde, das heißt, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein. Im konzeptionellen Rahmen dieser Betrachtungen könnten wir feststellen, daß Übeltäter, die sich weigern, selbst dar­über nachzudenken, was sie am, und die sich auch im Nachhinein gegen das Denken wehren – also sich weigern, zurückzugehen und sich an das zu erinnern, was sie taten (wobei es sich um »teshuvah« oder Reue handelt) -, es eigentlich versäumt haben, sich als ein Jemand zu konstitu­ieren. Indem sie sturköpfig ein Niemand bleiben, erweisen sie sich als unfähig, mit Anderen zu kommunizieren, die, ob nun gut, böse oder in dieser Hinsicht unbestimmbar, zumindest aber Personen sind.

Warum es eigentlich nicht OK ist, Zigeuner zu sagen

Ein Beitrag von unserer Dramaturgin Michaela

Schon seit einiger Zeit schwelt in Deutschland eine Debatte zwischen Menschen, denen die ‚political correctness‘ sehr am Herzen liegt und anderen, die dem Ganzen mit Unverständnis zuschauen und sich fragen, warum man auf einmal nicht mehr ‚Zigeunerschnitzel‘ sagen darf und ganze Kinderbücher umgeschrieben werden müssen, weil irgendwo ein vermeintlich rassistisches Wort vorkommt.

Von diesen Menschen höre ich oft Argumente wie: „Das hat man früher halt so gesagt, ganz ohne böse Hintergedanken. Da steckt nichts hinter. Und überhaupt, müssen wir Pippi Langstrumpfs Vater statt Negerkönig jetzt König der Südsee nennen?”

Ich sage: Ja.

Wir haben die Verantwortung, unser Sprachverhalten zumindest zu überdenken. Doch wenn es darum geht, gewisse Wörter (Zigeuner, Neger, Indianer etc.) nicht mehr zu benutzen, kriegt man von vielen Menschen schnell zu hören: „Wenn ich das sage, dann meine ich das ja gar nicht so. Schon gar nicht rassistisch.”

Das ist schon einmal sehr gut.

Nur ist das Problem halt nicht, wie es dir dabei geht, sondern der Person, die du damit ansprichst. Vielleicht sagst du ja ‚Zigeuner‘ ohne bösen Hintergedanken. Der Nazi nebenan tut es nicht. Und eine Person, die dich nicht kennt, kann nicht unterscheiden, zu welchem Lager du gehörst.

Und im Gegenzug kannst du nicht einschätzen, ob diese Person nicht gerade erst von wütenden Ausländerfeinden mit demselben Wort beschimpft wurde, das für dich einfach ein Wort ist, das man schon immer so verwendet hat.

Für mich gilt: Sprache schafft Realität.

Indem wir Dinge aussprechen, schaffen wir einen Rahmen. Einen Rahmen dafür, was wir in unserer Gesellschaft akzeptieren und was nicht. Wenn Wörter, die klare rassistische Ursprünge haben, akzeptiert sind – egal in welchem Kontext – ist es nur noch ein kleiner Schritt, bis auch rassistische oder ausgrenzende Handlungen akzeptiert werden.

Deshalb gilt für mich: Als Angehörige einer Mehrheit obliegt mir die Verantwortung, Minderheiten zu schützen. Ganz nach dem Motto: „Gerechte Sprache alleine mag zwar keine gerechte Welt schaffen. Aber durch gerechte Sprache können wir zeigen, dass wir eine gerechte Welt wollen.”

Doch wie kann es dann sein, dass wir trotzdem in unserem Glöckner von Zigeunern sprechen? Einem Wort, das zwar Victor Hugo und Disney genutzt haben, aber das Sinti und Roma heute eindeutig als diskriminierend bezeichnen?

Hier liegt der Knackpunkt. Es geht in unserem Stück nicht darum, die Ausgrenzungen von Sinti und Roma, sprich die Ausgrenzung einer gesellschaftlichen Gruppe, darzustellen. Vielmehr soll das Wort ‚Zigeuner‘ als Sammelbegriff gesehen werden, der stellvertretend für alle an den Rand gedrängten Gruppen unserer Gesellschaft steht. Obdachlose, Arbeitslose, Geflüchtete, ehemalige Strafgefangene, Sinti und Roma, Menschen mit anderen Religionen, Menschen mit anderer Hautfarbe und anderer Sprache.

Sie alle sind die Zigeuner, um die es hier geht. Randgruppen, Menschen, denen wir in unserer Mitte keinen Platz geben wollen.

So muss man den Begriff in diesem Kontext als Platzhalter verstehen, für all diejenigen, die auch heute noch genauso ausgestoßen leben müssen wie Esmeralda und Co. zu Hugos Zeiten und die unter denselben Diskriminierungen leiden.

Somit wurde die Verwendung dieses Wortes für unser Stück eine Bezeichnung, die funktioniert.

Trotzdem gilt am Ende für uns alle: Bitte nicht weitersagen.

Entschuldigung

von Rupi Kaur
(danke an Anna für das Fundstück!)

ich möchte mich bei allen frauen entschuldigen,
die ich schön genannt habe.
bevor ich sie schlau oder mutig nannte.
es tut mir leid, dass ich es so klingen ließ,
als wäre etwas, womit du geboren wirst,
das wichtigste, worauf du stolz sein kannst,
wenn dein mut berge zerschmettert hat.
von jetzt an werde ich dinge sagen wie: du bist unverwüstlich
oder: du bist außergewöhnlich.
nicht weil ich dächte, du wärst nicht schön.
aber weil du so viel mehr bist als das

Weitere Gedanken zum Stück?
Das Nibelungenlied stammt von einer Frau /Hengstin / Du Schurke! / Die Waffe einer Frau / Mann über Bord/ Ordnung ist der Feind der Freiheit

Hengstin

Wer hat dich in Ketten gelegt? Ketten aus Silber und Gold
Hast du das Silber gewählt? Hast du das selber gewollt?
Bleibst du gefällig, damit du jedem gefällst?
Die Waffen einer Frau richten sich gegen sie selbst!

Du hast gelernt, dass man besser keine Regeln bricht,
Dass man sich besser nicht im Gefecht die Nägel bricht,
Tiefe Stimmen erheben sich, gegen dich, knebeln dich,
Doch wer nichts zu sagen wagt, der spürt auch seine Knebel nicht!

Du fragst, was Sache ist? Reden wir Tacheles!
Ich glaube nicht daran, dass mein Geschlecht das schwache ist!
Ich glaube nicht, dass mein Körper meine Waffe ist!
Ich glaube nicht, dass mein Körper deine Sache ist!

Reiß dich vom Riemen, es ist nie zu spät
Denn ein Weg entsteht erst wenn man ihn geht
Ich bin kein Herdentier, nur weil ich kein Hengst bin, 
Ich bin ’ne, ich bin ’ne Hengstin

Trau keinem System, trau nicht irgendwem!
Lass dich nicht von Zucker und Peitsche zähmen!
Ich bin kein Herdentier, nur weil ich kein Hengst bin,
Ich bin ’ne, ich bin ’ne, ich bin ’ne Hengstin!

Festival Mainstage alles voller VIP’s,
Plattenfirma, Chefetage alles voller VIP’S,
Very Important Penises wo sind die Ladys im Business?
Wo man auch nur hin tritt überallen Schlips!

Es ist seit Hunderten von Jahren dieselbe Leier,
Das selbe Lied zu dem die Chauvis gerne feiern!
Sie besaufen sich am Testosteron bis sie reihern!
Ich seh so viele Männer und so wenig Eier!

Erzähl mir nicht, dass das Thema kalter Kaffee ist,
Man muss nicht alles schwarz anmalen um zu erkennen was Sache ist
Wir leben in ’nem Herrenwitz, der nicht zum Lachen ist,
Doch wenn man ihn nur gut erzählt, merkt keine Sau, wie flach er ist!

Reiß dich vom Riemen, es ist nie zu spät
Denn ein Weg entsteht erst wenn man ihn geht
Ich bin kein Herdentier, nur weil ich kein Hengst bin
Ich bin ’ne, ich bin ’ne Hengstin

Trau keinem System, trau nicht irgendwem
Lass dich nicht von Zucker und Peitsche zähmen
Ich bin kein Herdentier, nur weil ich kein Hengst bin
Ich bin ’ne, ich bin ’ne, ich bin ’ne Hengstin

Weitere Gedanken zum Stück findest du hier: Du Schurke, Vater Rhein, Die Waffe eine Frau, Ordnung ist der Feind der Freiheit

Du Schurke!

Ach, wie schön ist es, wenn das Böse so durch und durch Böse sein darf. Erinnert ihr euch noch an „die zauberhafte Welt von Oz“? Zwei gute und zwei böse Hexen – und die bösen sind dabei so durchtrieben, dass völlig klar ist, wer und was bekämpft werden muss.

Das hilft! Es gibt Orientierung und führt vor Augen, welches Handeln keine guten Absichten hat und sich gegen den Menschen wendet.

Wer ist also der Schurke im Nibelungen-Lied, von dem wir direkt wissen: „so bitte nicht“? Alle Finger in den Interpretationen zeigen sofort auf Hagen. Er, der Manager, der hinter den Kulissen die Fäden in der Hand hat, ist es, der den Figuren immer wieder leid antut.

Wir fanden, dass wird der Figur nicht gerecht. Und leider ist das „echte“ Leben auch nicht so schön in „gut“ und „böse“ zu teilen, so sehr wir uns das wünschen. Die „böse“ Banken, die „bösen“ Manager, die „bösen“ Politiker, die nur ihre Interessen im Blickfeld haben. Doch das greift zu kurz. Hinter jedem Handeln steckt eine Motivation, die manchmal komplizierter ist, als man zu Beginn meint. Wer schnell ein Urteil parat hat, wird oft diesen komplexen Umständen nicht wirklich gerecht. Denn warum handelt jemand in einer bestimmten Art und Weise? Was im echten Leben schwer zu ergründen ist, ist beim Schreiben eines Theaterstücks die zentrale Herausforderung der Figurenkonzeption. Und wir wollten Hagen anders als Hebbel* nicht vollständig diesem bösen Image überlassen. Uns hat interessiert, warum Hagen so handelt, wie er es tut, immer in der Annahme, dass er damit ein (gutes) Ziel erreichen will. Natürlich verfolgt er seine Interessen, aber wer tut es nicht? Natürlich versteht er sich im geschickten Zusammenführen von Situationen – er wäre der bessere König gewesen (und er weiß es)! Und stattdessen sieht er die Unfähigkeit König Gunthers stets vor sich und ist bemüht, Worms indirekt zu führen. Ihm ist es nicht gestattet, auf Augenhöhe mit dem Königshaus zu sprechen – der gedemütigte Bewerber Conrad von Ingelheim führt Hagen das schnell vor Augen: Wie ist noch mal gleich ihre Position am Hof?

Und so kommt eins zum anderen. Nicht jeder Plan geht auf und am Ende entsteht ein Chaos, das auch er nicht mehr beherrscht und ihn überfordert. Er macht die Fehler, die alle Figuren weiter an den Abgrund führen.

Aber eindeutig „böse“ ist er nicht. Hagen ist Täter. Und Opfer.

)* Christian Friedrich Hebbel (1813 – 1883) war ein deutscher Dramatiker und Lyriker. 1861 veröffentlicht er das Theaterstück „Die Nibelungen“, eines seiner wichtigsten Werke.

Weitere Gedanken zum Stück: Die Waffe einer Frau / Vater Rhein / Mann über Bord / Ordnung ist der Feind der Freiheit

Die Waffe einer Frau …

… ist eine Waffe. So verteidigt Krimhild in Xanten ihre „Kampfschule für junge Frauen“. Das Autorenteam hat sich mit dieser Stelle intensiv auseinandergesetzt. Zu Beginn stand hier ein Waisenheim, für das sich Krimhild einsetzen sollte. Typisch Frau eben, die mit „anderen“ Waffen kämpft, sozial engagiert ist und für die sanfte Veränderung steht. Genau dieses Bild befördert die gespurten Rollenbilder und bekräftigt das Trennende.

Was wäre eigentlich, wenn die Kategorie „Mann und Frau“ keine Rolle mehr spielte und es nur noch eine gebe, nämlich „den Menschen“. Das wäre das Ende des Rassismus, denn wenn Menschen nicht nach ihrer Kategorie, sondern ihres eigenen Wesens nach beobachtet würden, kollabierten alle Vorbehalte gegen „Bevölkerungsgruppen“ jeder Art.

Zu dumm, dass unser Gehirn eben gerne zur besseren Einordnung der Wahrnehmung bevorzugt mit Kategorien arbeiten kann. Wenn wir unsere Welt sauber kartographieren gewinnen wir Überblick und Sicherheit. Daher teilen wir alles und jeden in Klassen, Gattungen und Gruppen ein. Nur dass genau eben diese Gruppierungen individuell immer wieder rasch an Grenzen stoßen und man sich plötzlich in Schubladen wiederfindet, aus denen man sich nur schwer und dann auch nur unter teilweise größten Anstrengungen bis hin zur Aufopferung befreien kann. Genau dieses Dilemma erleiden nahezu alle Figuren in „Krimhild“. Egal ob Krimhild oder Brunhild, Hagen oder Gunther, Ute oder Siegfried. Alle sind gefangen in systemischen Strukturen, die eine Entfaltung ihrer Persönlichkeit schlimmstenfalls ver- aber in jedem Fall behindern.

Würde es uns verwundern, wenn Siegfried, Hagen oder Etzel eine Kampfschule bauen wollten? Wahrscheinlich nicht. Die Provokation ist, dass dies eine Frau einfordert. Und das beschreibt das eigentliche Problem, von dem wir alle ein Teil sind. Wir müssen uns bewusst werden, dass stereotypisches Denken missbraucht wird, um Machtinteressen durchzusetzen. Wir müssen anfangen, bestehende Strukturen nicht als „Natur gegeben“ anzusehen und damit Unrecht billigend in Kauf nehmen. Unterschiede gibt es zwischen allen Menschen, aber allen ist auch eines gemein: dass sie eben Menschen sind. Und in diesem Sinne: Die Waffe eines Menschen, ist eine Waffe. Ganz egal, ob es eine Frau, ein Mann, ein Nigeraner oder Ostwestfale ist.

Weitere Gedanken zum Stück:

Vater Rhein / Mann über Bord / Ordnung ist der Feind der Freiheit

Vater Rhein

Leidenschaft, Gefühl, Schauer, Abenteuer – das sind die zentralen Motive der Romantik, deren Epoche sich bis ins späte 19. Jahrhundert streckte. Die damalige Zeit war geprägt durch massive gesellschaftlich Umbrüche: also hochgradig „disruptiv“ – wie man heute sagen würde. Die Industrialisierung hat die Lebenswelt der Menschen vollständig auf den Kopf gestellt. Nützlichkeitsdenken und Rationalität waren bestimmend.

In dieser Zeit entstanden zahlreiche Mythen und Legenden zum „Vater Rhein“. Der Fluss, der nach dem römischen Flussgott Rhenus benannt ist, hat unsere Region über Jahrhunderte maßgeblich geprägt. Für die Römer war er eine Grenze, die das Wilde (den germanischen Norden) von der zivilisierten Welt trennte (den „römischen“ Süden) – eine Trennung die in Köln bis heute noch im kulturellen Gedächtnis verankert ist, indem man von der rechtsrheinischen Seite gerne als „scheel Sick“ spricht.

Als Wirtschaftsfaktor, Transportweg und Grenze diente der Rhein also seit eh und je. Die Romantiker gaben ihm seine mythische Bedeutung zurück. In der Figur des „Vaters“ verdichteten sie Mythen und Legenden in dem prägenden Strom, den auch Richard Wagner in das Zentrum seiner rund um das Nibelungenlied gesetzten Ring-Trilogie stellt.

Was macht nun als der „Vater Rhein“ in unserem Remix?

Auch heute leben wir in einer „disruptiven“ Zeit: von der industriellen, produzierenden Gesellschaft zur digitalen, vollautomatisierten. Auch heute erleben wir die Sehnsucht nach dem Fiktiven, Anti-Rationalem. Also geben wir dem Rhein eine Stimme und lassen ihn „seine“ Geschichten wiedererzählen, brechen wir zusammen mit den Walküren von Zeit zu Zeit aus dem Fluss der Geschichte aus, um einen anderen Blick auf das Erzählte zu erhalten. Denn es ist nicht die Fiktion oder das Narrativ, die unsere Systeme bedrohen, sondern der Mangel an Reflexion und Perspektivwechsel.

Weitere Gedanken zum Stück: Die Waffe einer Frau / Mann über Bord / Ordnung ist der Feind der Freiheit

Gedanken zum Stück

Deine Welt. Unser Stück. Wir suchen immer die Relevanz. Wenn wir spielen, hat das was mit unser Welt zu tun. Also. Was können uns die Nibelungen heute noch mit auf dem Weg geben?

Hier in den Beiträgen posten wir ab und zu Gedanken und Impulse, die thematisch zum Stück passen (und vielleicht auch ins Programmheft kommen). Es sind manchmal nur Schnippsel oder Ideen, nicht immer direkt am Theatertext gebunden.

Ordnung ist der Feind der Freiheit ist ein Text von Regisseur Tom zu einem der zentralen Sätze von Brunhild aus dem Stück. Der kurze Text führt in die Themenbrandbeite von Krimhild ein.

Mann über Bord! ist ein Text von Victor Hugo, über das unser Dramaturgenteam gestoplert ist. Auch wenn er sich nicht direkt auf Krimhild bezieht, so trifft die hier beschriebene Situation doch auf die Figur gut zu.

Noch mehr? Bestimmt. Bald hier auf kjg-theater.de

Mann über Bord!

Ein Mann über Bord!

Wer kehrt sich daran? Das Schiff bleibt nicht stehen. Der Wind treibt es weiter, und es muss seinen Weg fortsetzen. Es fährt vorbei.

Der Mann verschwindet in den Wellen und taucht wieder empor. Er ruft, er streckt die Arme aus, niemand hört ihn. Matrosen und Passagiere denken nur an den Sturm, der das Schiff erbarmungslos schüttelt. Keiner sieht den Verlorenen, sein unglückliches Haupt ist nur ein Punkt in der unendlichen Wasserwüste.

Wie grauenvoll ist für ihn der Anblick jenes Segels, das vor ihm flieht! Er stiert ihm nach mit der ganzen Kraft seiner Augen. Aber wehe! Es wird kleiner, immer kleiner. Eben noch war er mit den anderen Matrosen auf dem Deck und hatte teil am Leben und am Licht. Und jetzt! Er glitt bloß aus, er fiel, und nun ist es vorbei mit ihm.

Jetzt ist er ein Spielball der Fluten. Sie weichen und gleiten unter ihm dahin, steigen empor und umtosen ihn, spritzen ihre Gischt auf ihn, wirbeln ihn herum, tauchen ihn unter zeigen ihm die Finsternisse der Tiefe, umstricken seine Füße mit unentwirrbaren, unbekannten Gewächsen, dringen durch alle Poren, durch Mund und Nase in ihn hinein und wetteifern, ihn zu verhöhnen, zu verderben.

Wohl wehrt er sich gegen ihren Hass. Er bietet alle seine schwachen Kräfte auf, die unerschöpflichen Naturgewalten zu bekämpfen. Er schwimmt.

Wo ist denn das Schiff? Dahinten, kaum noch sichtbar im fahlen Dämmerlicht des Horizonts.

Der Sturm rast weiter, die Fluten dringen stärker auf ihn ein. Er richtet die Augen empor und sieht nur noch die fahlen Wolken.

Es fliegen wohl Vögel über dem unendlichen Wasserschwall, wie Engel einherschweben über all der Not des Erdendaseins; aber was können sie tun, ihm zu helfen? Das fliegt, steigt und zwitschert, und er, er stöhnt und seufzt.

Jetzt bricht die Nacht herein. Stundenlang schwimmt er schon; seine Kräfte gehen zu Ende. Das Schiff, das Ding, in dem Menschen waren, ist verschwunden. Er ist allein in der grauenvollen, dämmrigen Öde. Er sinkt. Er hebt sich, windet und krümmt sich. Er fühlt unsichtbare Mächte, die ihn hinabreißen wollen, und ruft.

Menschen sind nicht da. Wo ist Gott?

Er ruft. Um ihn und über ihm ist nur der Raum, das Wasser, Algen, Klippen, der Himmel; aber die sind alle taub und stumm.

Da packt ihn die Verzweiflung. Des unnützen Kampfes müde, entschließt er sich, zu sterben, und versinkt in die Tiefe der Vernichtung.

Diesem Mann, der hilflos auf dem Meer untergeht, gleicht auch der Unglückliche, den das erbarmungslose Gesetz zu geistiger und moralischer Vernichtung verdammt.

Auch die Seele, die, von der Gesellschaft über Bord geworfen, sich selbst überlassen bleibt, kann ihr Leben verlieren, und wer wird sie wiedererwecken?

(Victor Hugo)

Weitere Gedanken zum Stück: Die Waffe einer Frau / Vater Rhein / Ordnung ist der Feind der Freiheit