Archiv der Kategorie: Gedanken zum Stück

Hexenhammer

Claude Frollo, der erste Priester in Notre-Dame, verweist in unserem Stück auf den „Malleus Maleficarum“ – den „Hexenhammer“. Esmerlada wird im Verlauf des Stücks als Hexe verurteilt. Hexenverfolgung folgt der Systhematik von Verschwörungsgläubigen. Folgender spanneder Artikel aus der ZEITGeschichte 03/2020 gibt ein wenig Inside zu dem Thema Hexenverfolgung. Dabei ist so manche Parallele in unsere heutige Zeit insbesondere bei populistischen Äußerungen mehr als erschreckend.

Unholde trafen sich um Mitternacht auf einer abgelegenen Waldlichtung. In fliegender Eile kamen sie durch die Lüfte geritten, auf mit Salbe beschmierten Besen und Mistgabeln, auf Böcken und anderem Getier. Einige mutierten zu Bestien, andere waren ganz nackt. Gastgeber der höl­lischen Party war der Teufel. Er zeigte sich mal als stinkender Bock, mal war er halb Mensch, halb Tier, von Gold überzogen und flammenglühend, auf feu­rigem Stuhl. An seiner Seite thronte eine mit fal­schem Schmuck herausgeputzte Hexe.

Man ehrte den Teufel, indem man ihm den Hin­tern küsste. Schaurige Speisen standen zum Festmahl bereit: Kessel voller Kröten, Schlangen, verwesender Leichen Hingerichteter und Herzen ungeraufter Kinder. Einander den Rücken zugewandt, tanzten die Weiber zu unverständlichem, ohrenzerfetzendem Gesang. Man pflegte ungehemmten Sex unter aller Augen und feierte, Gott zum Hohn, eine Messe mit schwarzen, übel riechenden Hostien.

Diese Beschreibung eines Hexensabbats stammt aus der Abhandlung über die Unbeständigkeit der bösen Engel und Dämonen, die Pierre de Lancre, Mit­glied des obersten Gerichtshofes von Bordeaux, 1612 veröffentlichte. Den Stoff dazu hatte er während ei­ner Hexenjagd im Labourd, dem französischen Teil des Baskenlandes, gesammelt. 1609 war er von Kö­nig Heinrich IV. damit beauftragt worden, hier mir dem Übel der Hexerei aufzuräumen. Drei Priester, denen Bündnisse mit dem Teufel unterstellt wurden, und acht »Hexen« mussten den Scheiterhaufen be­steigen. Der im benachbarten spanischen Basken­land tätige Inquisitor Alonso Salazar y Frias, ein ent­schiedener Gegner des Hexenglaubens, berichtet sogar von 80 Hinrichtungen.

Der furchtbare Jurist Dr. de Lancre glaubte un­zweifelhaft an die Wirklichkeit dessen, was seine Opfer aussagten. Für ihn wie für fast alle seine Zeit­genossen waren Zauberer, Hexen und Teufel real existierende Wesen, die man keineswegs selten traf. Ein schwäbischer Chronist berechnete 1589 die Zahl der Teilnehmer eines Hexensabbats auf 29.400. Ein protestantischer Theologe kam auf eine wahrhaft gigantische Zahl von Teufeln: 2.665.866.746.664, mehr als zweieinhalb Billionen. Hätte es diese sata­nische Armee wirklich gegeben, es wäre die größte und gefährlichste Verschwörung aller Zeiten gewesen.

Man glaubte tatsächlich, die Hexen bildeten eine »Sekte«. Hexenprozesse hatten ihre Muster in hoch­mittelalterlichen Häresieverfahren. Ketzer waren aus Sicht der Kirche ja ebenfalls vom Teufel verführte Götzenanbeter, und man unterstellte ihnen ähnliche Delikte wie angeblichen Hexen und Hexern.

Europa führte einen erbitterten Kampf gegen das imaginäre Böse. Man warf den Angeklagten vor hätten mit dem Teufel einen Pakt geschlossen, der dann mit »Buhlschaft« besiegelt worden sei. Der Teufel sollte sich seinen Opfern in mannigfacher Ge­stalt nähern. Frauen verführe er bei Gelegenheit als charmanter Galan. Die Liebeslust werde durch den Umstand beeinträchtigt, dass Satans Glied eiskalt sei oder sich anfühle wie ein Stück Holz. Ein weiteres Delikt, das man den Hexen und Hexern neben der Teilnahme am Hexensabbat zuschrieb, war der Scha­denzauber gegen Mensch und Tier. Als ihr schlimms­tes Verbrechen jedoch galt die Absage an Gott und die Schändung seiner »Ehre«. Darin lag ein theologi­sches Motiv für die Gnadenlosigkeit, mit der gegen sie vorgegangen wurde. Der Zunder der Scheiterhau­fen war aus der Prophezeiung der Offenbarung des Johannes gemacht, Zauberer und Götzendiener würden ihr Ende in einem See von brennendem Schwefel finden.

Ihren Höhepunkt erreichten die Verfolgungen nach Anfängen im spätmittelalterlichen Alpenraum zwischen 1560 und 1660. Einige Prozesse forderten Hunderte oder gar Tausende Opfer, etwa in Loth­ringen, in den Territorien der Bischöfe von Köln, Mainz und Würzburg oder im Gebiet Berns. Fatal wirkte sich dabei das Fantasiegebilde des Hexensab­bats aus. Hatte die Justiz eine angebliche Hexe oder einen vermeintlichen Zauberer in ihren Fängen, wurden diese dazu aufgefordert, weitere Gäste der nächtlichen Gelage zu nennen. Gegen Halsstarrige half Folter: Wem der Streckgalgen die Gelenke aus­kugelt oder die Daumenschraube das Blut unter den Nägeln hervorquetscht, nennt alle Namen, die ihm einfallen. So wurden immer mehr Verdächtige vor den Richter gezogen. Man zwang sie, weitere Mit­glieder der Hexensekte zu »besagen«, die dann ihrer­seits den Folterknechten überantwortet wurden.

Duldete eine Obrigkeit Feinde Gottes, machte sie sich nach verbreiteter Meinung selbst schuldig und zog Gottes Zorn auf den Staat. Dieselbe Logik hielt dazu an, Ketzer wie Geschwüre auszubrennen aus dem reinen Leib der Christenheit. Und sie befeuerte die Religionskriege, die zur selben Zeit tobten, als die Hexenpaniken eskalierten. Die konfessionelle Kon­kurrenz nährte den Glaubenseifer und damit den Willen, die Feinde Gottes auszurotten. »Deutschland, so vieler Hexen Mutter!«, entfuhr es einem Zeitge­nossen der Prozesswelle zwischen 1626 und 1630, die einen Gipfel der Verfolgungen markiert. Endzeit­stimmung machte sich breit; an apokalyptischen Plagen herrschte ja kein Mangel. Immer wieder galloppierten die Reiter der Offenbarung – Teuerung, Hunger, Seuchen, Tod – durchs Land. Steuern fraßen vom Geld, das kaum mehr fürs Brot reichte. Der frühmoderne Staat brauchte jeden Heller, um Söld­ner und Bürokraten zu entlohnen, Schlösser zu bau­en, Feste zu feiern.

Ein weiterer Faktor war das Wetter. Seit etwa 1560 begannen die Durchschnittstemperaturen in Europa zu sinken. Harte Winter und verregnete, kalte Sommer häuften sich. Es war, wie man heute weiß, eine kritische Phase der sogenannten Kleinen Eiszeit, die schon die Agrardepression des 14. Jahr­hunderts bedingt und die Pestzüge um 1347/48 be­günstigt hatte. Die Fähigkeit, Wetter machen zu können, Hagelstürme etwa, traute man den Unhol­den von jeher zu. Weil man Hexen die Schuld am Misswachs auf den Feldern gegeben habe, »erhob sich das ganze Land zu ihrer Ausrottung«, vermerkte eine Trierer Chronik des späten 16. Jahrhunderts.

Tatsächlich kam die Initiative, gegen Hexen vor­zugehen, häufig »von unten«, aus Bauerngemeinden oder dem einfachen Stadtvolk. Am Anfang des Ver­fahrens stand oft ein kleineres oder größeres Unglück: Eine Kuh gab keine Milch, der Ehemann litt unter Impotenz, ein Kind starb. Als Täterin oder Täter wurden häufig Personen ausgemacht, die schon jah­relang im Verdacht gestanden hatten, mit dem Teufel im Bund zu sein. »Weise Frauen« und Heiler, die sich auf magische Riten verstanden, waren besonders gefährdet. Nicht wenige Angeklagte scheinen dem Bild der »Märchenhexe« entsprochen zu haben: Sie hatten physische Besonderheiten – Buckel, rotes Haar, Warze -, lebten allein und wurden in Beglei­tung einer schwarzen Katze gesehen. Irgendwann erstatteten Geschädigte Anzeige. Zeugen wurden aufgeboten, Indizien gesammelt. Das Verhängnis nahm seinen Lauf.

Schuld tragen zu müssen war das klassische Los der Hexen und Hexer, genauer: der monströsen Fi­guren, die sich die Fantasie tief in der menschlichen Psyche formte. Jede Gesellschaft braucht ihre Sün­denböcke. Waren es während der Pest von 1347/48  »die Juden« als angebliche Brunnenvergifter gewesen, übernahmen nun Hexen deren Part. Wolfgang Behringer, ein führender Hexenforscher, erinnert daran, dass sie zu allen Zeiten und rund um den Globus erschaffen wurden. Babylon und das antike Griechenland hegten ebenso Hexereivorstellungen wie die Navaho Amerikas, australische Aborigines oder die Inuit der Arktis. Noch in jüngster Vergangenheit wird aus Afrika vom Glauben an Hexer und Hexen und Lynchmorden an ihnen berichtet. Auch in den Köpfen mancher Europäerinnen und Europäer spuken sie bis heute.

Die Funktion der imaginären Monster gleicht den Segnungen von Psychopharmaka: Ihr eingebildetes Wirken erklärt, was sonst unerklärbar wäre, und nimmt dem blinden Zufall seine Macht. Brach sich ein zentralafrikanischer Azande ein Bein, hatte er nicht einfach Pech oder war unvorsichtig. Vielmehr fühlte er sich als Opfer von mangii, Hexerei. Vor allem aber erlaubte es die Konstruktion, zu handeln und nicht mehr nur zu beten: Gegen die Pest oder das Wetter ließ sich nichts ausrichten, gegen Hexen schon.

In einem Punkt jedoch unterscheidet sich der europäische Hexenwahn von vergleichbaren Phänomenen aller anderen Kulturen: Er wurde zu Schrift und Papier, und er mündete in staatlich organisiert Prozesse, die von mächtigen juristischen und theologischen Fundamenten getragen wurden. Ein reiche theoretische Literatur nährte die Vorstellung einer Verschwörung durch eine universal vernetzt Sekte. Abertausende Verhöre, die in Europas Archiven erhalten sind, spiegeln »Erkenntnisse« der Dämonologen. Die Fragenkataloge der Verfolge arbeiteten ab, was sich in den Büchern nachlese ließ: ob die Angeklagte mit dem bösen Feind geschlafen habe? Ob sie beim nächtlichen Tanz dabei gewesen sei? Ob sie auf dem Friedhof Kindsleiche ausgegraben habe? Ob sie …?

Das erfolgreichste Elaborat des Genres war der 1487 publizierte Hexenhammer, ein erster Sündenfall des neuen Mediums Buchdruck. Sein Autor, der Dominikaner Heinrich Kramer, latinisiert »Institoris«, hatte drei Jahre zuvor bei Papst Innozenz VIII. eine Bulle erwirkt, die ihn zur Verfolgung der in Deutschland ihr Unwesen treibenden Hexen und Zauberer ermächtigte. Sehr erfolgreich war er nicht; dem Bi­schof von Brixen war er als »ganz kindisch«, als ver­trottelter Greis erschienen. So verwies der Bischof ihn seiner Diözese.

Der Hexenhammer war eine Reaktion darauf. Unter Berufung auf Autoritäten wie Augustinus oder Thomas von Aquin suchte der Autor zu bewei­sen, dass rechtgläubig sei, wer Nachtflug, Sex mit Dämonen oder Schadenzauber Realität zuschrieb. Das dickleibige Machwerk bot wenig Neues. Es systematisierte, was man damals über das Hexen­werk zu wissen meinte, und gab präzise Hinweise, wie Prozesse zu führen waren. In mehrere Sprachen übersetzt und bis ins Jahr 1669 etwa dreißigmal auf­gelegt, wurde das fatale Buch zur Bibel vieler He­xenjäger.

Auffällig ist der fanatische Frauenhass, der von Seite zu Seite daraus spricht. Vermutlich hatte sich da ein frustrierter Zölibatär Verdrängtes vom Leib geschrieben. Wer anders als der Teufel konnte hin­ter den Verlockungen des Weiblichen stecken, die auch ihn, den frommen Mönch, bisweilen befallen haben mögen? Das misogyne Gift des Hexenham­mers ist eine der Ursachen dafür, dass in vielen Re­gionen Mitteleuropas bis zu 80 Prozent der Opfer Frauen waren. Vorsichtigen Schätzungen zufolge wurden insgesamt etwa 60.000 angebliche Hexen und Hexer gehenkt, geköpft oder verbrannt. Auch Kinder wurden manchmal nicht verschont. Der Henker schnitt die Pulsadern auf, um ihnen das Sterben zu erleichtern.

Unumstritten war die Verfolgung nie. Die Fron­ten verliefen quer durch Konfessionen und selbst Orden. Die Jesuiten stellten mit Martin Delrio, Autor einer monumentalen Hexenlehre, einen würdigen Nachfolger des Institoris; Jesuiten waren aber auch Adam Tanner und Friedrich Spee, zwei entschiedene Kritiker der Prozesse. In seiner Cautio Criminalisvon 1631 ließ Spee durchblicken, dass er das gesamte Hexenwesen allein für ein Produkt der Folter und der Unwissenheit hielt. Am Ende des 17. Jahrhunderts zog der niederländische Theologe Balthasar Bekker den Zorn seiner calvinistischen Glaubensgenossen auf sich, als er in seiner Schrift Bezauberte Welt die Macht des Teufels und die Existenz von Dämonen überhaupt verneinte.

Erst als die Aufklärung mit ihrer Feier von Ver­nunft und Toleranz in Kabinette und Gerichtsstuben Eingang fand, nahte allmählich das Ende einer der dunkelsten Episoden der europäischen Geschichte. Doch dauerte es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, bis endgültig der Vorhang fiel. Die letzte »legale« Hinrichtung einer »Hexe«, der Magd Anna Göldin, fand 1782 im schweizerischen Glarus statt.

Bernd Roeck „Hexenverfolgung“ in ZEITGeschichte 03/2020, S. 30 – 33

Über das Böse

Phoebus, der Hauptmann der Stadtwache in Paris, ist in unserer Version anders gezeichnet als in Victor Hugos Original. „Unser“ Phoebus entscheidet sich „falsch“ und nimmt damit das Leid, das Esmeralda, die er eigentlich liebt, wissentlich in Kauf. Moralisch nennt man sein Verhalten „böse“. Die Philosophin Hannah Arendt hat in ihrer Vorlesung „Über das Böse“ einen Gedanken entwickelt, der dieses Verhalten von Phoebus moraltheoretisch gut beschreibt.

Text aus Hannah Arendt, „Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik“, München, 2006

Schließlich wollen wir uns [in diesem Zusammenhang] an die wenigen Hinweise erinnern, die ich zu der Frage, wie das Problem des Bösen vom Standpunkt dieser streng genom­men philosophischen Art von Moral aussieht, gegeben habe. Das Böse – wenn hinsichtlich des Selbst und des denkenden Austausches zwischen mir und mir selbst bestimmt – bleibt formal, so inhaltsleer wie Kants kategorischer Imperativ, Jessen Formalismus seine Kritiker so oft in Rage versetzt hat. Wenn Kant sagte: Jede Maxime, die kein universal gül­tiges Gesetz werden kann, ist Unrecht, so ist das, als hätte Sokrates gesagt, jede Tat sei Unrecht, mit deren Urheber ich nicht mehr Zusammenleben könne. Im Vergleich scheint Kants Aussage weniger formal und sehr viel strenger zu sein; Diebstahl und Mord, Fälschung und falsches Zeugnis Ablegen werden mit gleicher Härte untersagt. Die Frage, ob ich nicht lieber mit einem Dieb als mit einem Mörder Zu­sammenleben möchte; ob ich vielleicht einen Fälscher be­trächtlich weniger gern hätte als jemanden, der eine falsche Zeugenaussage gemacht hat, etc., wird nicht einmal gestellt. Der Grund für diesen Unterschied liegt auch darin, daß Kant – trotz gegenteiliger Beteuerungen – eben doch nicht genau zwischen Legalität und Moralität trennte und daß er Moralität ohne Vermittlungen zur Quelle des Gesetzes ma­chen wollte, so daß der Mensch, wo immer er hinging und was immer er tat, sein eigener Gesetzgeber, eine völlig auto­nome Person war. In Kants Aussage ist das Böse dasselbe, ob es den Menschen zum Dieb oder zum Mörder macht; es handelt sich um die gleiche unheilvolle Schwäche in der menschlichen Natur. Ein weiteres und selbstverständlich sehr gewichtiges Beispiel dafür, daß Übertretungen aufge­listet und nicht entsprechend ihrer Schwere bewertet wer­den, ist der Dekalog, von dem auch angenommen wurde, daß er die Grundlage der im Land geltenden Rechtsordnung gewesen ist.

Nun ist wahr, daß Sie, wenn Sie nur die eine der drei Sokratischen Aussagen nehmen (es ist besser, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun), dann die gleiche merkwürdige Gleichgültigkeit gegenüber möglichen Abstufungen des Bösen finden; doch dieser Eindruck schwindet, wenn Sie dieses zweite Kriterium [, das] des Mit-sich-selbst-Lebens[,] hinzufügen, wie wir es hier getan haben. Denn dieses ist, im Unterschied zum rechtlichen, ein rein moralisches Prinzip. Was den Handelnden angeht, so kann er nicht mehr sagen als: »Das kann ich nicht tun«, oder wenn er die Tat bereits ausgeführt hat: »Dies hätte ich niemals tun dürfen«, wo­mit er andeutet, daß er schon vorher Unrecht getan haben könnte, jedoch ohne unheilvolle Folgen. An diesem Punkt ergibt sich ein Unterschied zwischen jener Art von Über­tretungen, mit denen wir täglich zu tun haben und von de­nen wir wissen, wie wir mit ihnen klarkommen oder sie entweder durch Bestrafung oder Vergebung loswerden kön­nen, und solchen Straftaten, von denen wir nur noch sagen können: »Das hätte nie geschehen dürfen«. Von dieser Be­hauptung aus ist es nur noch ein Schritt zu der Schluß­folgerung, daß wer immer solches tat, niemals hätte geboren werden sollen.42 Diese Unterscheidung ist offenbar sehr ähnlich derjenigen, die Jesus von Nazareth zwischen Über­tretungen macht, die ich »am Tage sieben Mal« vergeben soll, und jenen Straftaten, hinsichtlich derer es besser für den Täter wäre, »daß ein Mühlstein an seinen Hals gehänget und er ersäuft würde im Meer«43.

Zu diesen Aussprüchen gibt es für unseren Zusammen­hang zwei Dinge, die besonders vielsagend sind. Zunächst: Das [griechische] Wort, das für Straftat benutzt wird, ist ikandalon«, womit ursprünglich eine Falle, die man seinen einden stellte, gemeint war, und das hier für das hebräische Wort »mikshol« oder »zur mikshol«, Stolperstein, gebraucht wird. Diese Unterscheidung zwischen bloßen Übertretun­gen und diesen tödlichen Stolpersteinen scheint auf mehr hinzuweisen als die gegenwärtig gebräuchliche Unterschei­dung zwischen läßlichen Sünden und Todsünden; sie weist darauf hin, daß diese Stolpersteine nicht, wie es für die Über­tretungen gilt, aus unserem Weg geräumt werden können. Zweitens und nur scheinbar nicht mit dieser Textinterpre­tation vereinbar, notieren Sie bitte, daß [es heißt,] es wäre »ihm«,für ihn, besser gewesen, wenn er nie geboren worden wäre; denn das legt es nahe, die Bemerkung so zu lesen, als hätte sich der Täter der Straftat, für deren Wesen nichts wei­ter angegeben wird, als daß sie ein unüberwindbares Hin­dernis sei, selbst ausgelöscht.

Doch soweit wir auch gedanklich die Folgen ausspinnen mögen, welche diesen wenigen Behauptungen innewohnen, die in der einen oder anderen Weise noch immer die einzi­gen Einsichten sind, auf die wir bei unserer Suche nach der Natur des Bösen zurückgreifen können – eines ist nicht zu leugnen, nämlich die höchst persönliche und, wenn Sie so wollen, sogar subjektive Beschaffenheit all der Kriterien, die ich Ihnen vorgelegt habe. Hierbei handelt es sich möglicher­weise um den angreifbarsten Aspekt meiner Betrachtungen, und ich werde darauf in der nächsten Vorlesung zurück­kommen, wenn ich das Wesen des Urteils erörtere. Lassen Sie mich heute, sozusagen zur Selbstverteidigung, nur zwei Äußerungen erwähnen, die im wesentlichen den gleichen Gedanken aussprechen. Selbst wenn sie aus unvereinbare1 Quellen und von zwei grundverschiedenen Männern stammen, mögen sie Ihnen vielleicht einen Hinweis darauf ge­ben, worauf es mir ankommt. Die erste meiner Äußerungen stammt von Cicero und die zweite von Meister Eckhart, dem großen Mystiker des 14. Jahrhunderts. Cicero erörtert in seinen Gesprächen in Tusculum gegensätzliche Meinun­gen von Philosophen zu bestimmten Themen, die uns hier nicht zu interessieren brauchen. Und als er dazu kommt, entscheiden zu müssen, welche richtig und welche falsch sind, führt er plötzlich und recht unerwartet ein vollkom­ men anderes Kriterium ein. Er läßt die Frage nach der ob­jektiven Wahrheit fallen und sagt: Wenn ich zwischen den Meinungen der Pythagoräer und der Platos zu wählen habe, würde ich »beim Gott eher mit Plato auf Abwege geraten wollen, als mit diesen Leuten wahre Auffassungen vertre­ten«. Und er läßt seinen Gesprächspartner das noch einmal betonen: Auch er würde nicht das geringste dagegen haben, mit einem solchen Mann auf Abwege zu geraten und zu irren. Noch erstaunlicher als diese nur polemische Aussage ist eine von Eckhart, die, offen gesagt, häretisch ist. Sie fin­det sich in einem der sogenannten Sprüche, die erhalten sind (und bei denen es sich eigentlich um Anekdoten handelt). Eckhart hat angeblich den glücklichsten Mann getroffen, der aber, wie sich herausstellt, ein Bettler ist. Es wird hin und her argumentiert, bis schließlich der Bettler gefragt wird, ob er sich auch dann noch für glücklich hielte, wenn er sich in der Hölle wiederfände. Und der Bettler, der seine Argumente auf seine Liebe zu Gott gestützt hat und auf die Annahme, daß er alles, was er liebe, bei sich habe, antwor­tet: O ja, »ich wäre lieber in der Hölle mit Gott als ohne ihn im Himmel«. Das Entscheidende ist, daß beide, Cicero und Eckhart, darin übereinstimmen, daß es einen Punkt gibt, an dem alle objektiven Maßstäbe (die Wahrheit, die Belohnungen und Strafen in einem Jenseits etc.) ihre Vor­herrschaft zugunsten dieses »subjektiven« Kriteriums – der Art von Person, mit der ich Zusammensein und leben möchte – abgeben.

Wenn wir unter Verwendung dieser Aussprüche die Frage nach der Natur des Bösen stellten, würde das darauf hinaus aufen, daß eher der Täter und das Wie seiner Tat bestimmt würde als die Tat selbst oder deren endgültige Folge. Und Sie werden diese Verschiebung von dem objektiven Was einer getan hat zu dem subjektiven Wer des Täters als Randge­gebenheit selbst in unserem Rechtssystem finden. Denn es stimmt zwar, daß wir jemanden für das verurteilen, was er tat, doch ebenso wahr ist, daß diese Tat nicht mehr in Betracht gezogen wird, wenn man den Mörder begnadigt. Nicht der Mord wird vergeben, sondern dem, der getötet hat, seiner Person, wie sie in Anbetracht der Umstände und Absichten erscheint. Das Lästige an den Nazi-Verbrechern war gerade, daß sie willentlich auf alle persönlichen Eigen­schaften verzichteten, als ob dann niemand mehr übrig­bliebe, der entweder bestraft oder dem vergeben werden könnte. Immer und immer wieder beteuerten sie, niemals etwas aus Eigeninitiative getan zu haben; sie hätten keine wie auch immer gearteten guten oder bösen Absichten ge­habt und immer nur Befehle befolgt.

Um es anders zu sagen: Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemanden getan wurde, das heißt, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein. Im konzeptionellen Rahmen dieser Betrachtungen könnten wir feststellen, daß Übeltäter, die sich weigern, selbst dar­über nachzudenken, was sie am, und die sich auch im Nachhinein gegen das Denken wehren – also sich weigern, zurückzugehen und sich an das zu erinnern, was sie taten (wobei es sich um »teshuvah« oder Reue handelt) -, es eigentlich versäumt haben, sich als ein Jemand zu konstitu­ieren. Indem sie sturköpfig ein Niemand bleiben, erweisen sie sich als unfähig, mit Anderen zu kommunizieren, die, ob nun gut, böse oder in dieser Hinsicht unbestimmbar, zumindest aber Personen sind.

Warum es eigentlich nicht OK ist, Zigeuner zu sagen

Ein Beitrag von unserer Dramaturgin Michaela

Schon seit einiger Zeit schwelt in Deutschland eine Debatte zwischen Menschen, denen die ‚political correctness‘ sehr am Herzen liegt und anderen, die dem Ganzen mit Unverständnis zuschauen und sich fragen, warum man auf einmal nicht mehr ‚Zigeunerschnitzel‘ sagen darf und ganze Kinderbücher umgeschrieben werden müssen, weil irgendwo ein vermeintlich rassistisches Wort vorkommt.

Von diesen Menschen höre ich oft Argumente wie: „Das hat man früher halt so gesagt, ganz ohne böse Hintergedanken. Da steckt nichts hinter. Und überhaupt, müssen wir Pippi Langstrumpfs Vater statt Negerkönig jetzt König der Südsee nennen?”

Ich sage: Ja.

Wir haben die Verantwortung, unser Sprachverhalten zumindest zu überdenken. Doch wenn es darum geht, gewisse Wörter (Zigeuner, Neger, Indianer etc.) nicht mehr zu benutzen, kriegt man von vielen Menschen schnell zu hören: „Wenn ich das sage, dann meine ich das ja gar nicht so. Schon gar nicht rassistisch.”

Das ist schon einmal sehr gut.

Nur ist das Problem halt nicht, wie es dir dabei geht, sondern der Person, die du damit ansprichst. Vielleicht sagst du ja ‚Zigeuner‘ ohne bösen Hintergedanken. Der Nazi nebenan tut es nicht. Und eine Person, die dich nicht kennt, kann nicht unterscheiden, zu welchem Lager du gehörst.

Und im Gegenzug kannst du nicht einschätzen, ob diese Person nicht gerade erst von wütenden Ausländerfeinden mit demselben Wort beschimpft wurde, das für dich einfach ein Wort ist, das man schon immer so verwendet hat.

Für mich gilt: Sprache schafft Realität.

Indem wir Dinge aussprechen, schaffen wir einen Rahmen. Einen Rahmen dafür, was wir in unserer Gesellschaft akzeptieren und was nicht. Wenn Wörter, die klare rassistische Ursprünge haben, akzeptiert sind – egal in welchem Kontext – ist es nur noch ein kleiner Schritt, bis auch rassistische oder ausgrenzende Handlungen akzeptiert werden.

Deshalb gilt für mich: Als Angehörige einer Mehrheit obliegt mir die Verantwortung, Minderheiten zu schützen. Ganz nach dem Motto: „Gerechte Sprache alleine mag zwar keine gerechte Welt schaffen. Aber durch gerechte Sprache können wir zeigen, dass wir eine gerechte Welt wollen.”

Doch wie kann es dann sein, dass wir trotzdem in unserem Glöckner von Zigeunern sprechen? Einem Wort, das zwar Victor Hugo und Disney genutzt haben, aber das Sinti und Roma heute eindeutig als diskriminierend bezeichnen?

Hier liegt der Knackpunkt. Es geht in unserem Stück nicht darum, die Ausgrenzungen von Sinti und Roma, sprich die Ausgrenzung einer gesellschaftlichen Gruppe, darzustellen. Vielmehr soll das Wort ‚Zigeuner‘ als Sammelbegriff gesehen werden, der stellvertretend für alle an den Rand gedrängten Gruppen unserer Gesellschaft steht. Obdachlose, Arbeitslose, Geflüchtete, ehemalige Strafgefangene, Sinti und Roma, Menschen mit anderen Religionen, Menschen mit anderer Hautfarbe und anderer Sprache.

Sie alle sind die Zigeuner, um die es hier geht. Randgruppen, Menschen, denen wir in unserer Mitte keinen Platz geben wollen.

So muss man den Begriff in diesem Kontext als Platzhalter verstehen, für all diejenigen, die auch heute noch genauso ausgestoßen leben müssen wie Esmeralda und Co. zu Hugos Zeiten und die unter denselben Diskriminierungen leiden.

Somit wurde die Verwendung dieses Wortes für unser Stück eine Bezeichnung, die funktioniert.

Trotzdem gilt am Ende für uns alle: Bitte nicht weitersagen.

Entschuldigung

von Rupi Kaur
(danke an Anna für das Fundstück!)

ich möchte mich bei allen frauen entschuldigen,
die ich schön genannt habe.
bevor ich sie schlau oder mutig nannte.
es tut mir leid, dass ich es so klingen ließ,
als wäre etwas, womit du geboren wirst,
das wichtigste, worauf du stolz sein kannst,
wenn dein mut berge zerschmettert hat.
von jetzt an werde ich dinge sagen wie: du bist unverwüstlich
oder: du bist außergewöhnlich.
nicht weil ich dächte, du wärst nicht schön.
aber weil du so viel mehr bist als das

Weitere Gedanken zum Stück?
Das Nibelungenlied stammt von einer Frau /Hengstin / Du Schurke! / Die Waffe einer Frau / Mann über Bord/ Ordnung ist der Feind der Freiheit

Hengstin

Wer hat dich in Ketten gelegt? Ketten aus Silber und Gold
Hast du das Silber gewählt? Hast du das selber gewollt?
Bleibst du gefällig, damit du jedem gefällst?
Die Waffen einer Frau richten sich gegen sie selbst!

Du hast gelernt, dass man besser keine Regeln bricht,
Dass man sich besser nicht im Gefecht die Nägel bricht,
Tiefe Stimmen erheben sich, gegen dich, knebeln dich,
Doch wer nichts zu sagen wagt, der spürt auch seine Knebel nicht!

Du fragst, was Sache ist? Reden wir Tacheles!
Ich glaube nicht daran, dass mein Geschlecht das schwache ist!
Ich glaube nicht, dass mein Körper meine Waffe ist!
Ich glaube nicht, dass mein Körper deine Sache ist!

Reiß dich vom Riemen, es ist nie zu spät
Denn ein Weg entsteht erst wenn man ihn geht
Ich bin kein Herdentier, nur weil ich kein Hengst bin, 
Ich bin ’ne, ich bin ’ne Hengstin

Trau keinem System, trau nicht irgendwem!
Lass dich nicht von Zucker und Peitsche zähmen!
Ich bin kein Herdentier, nur weil ich kein Hengst bin,
Ich bin ’ne, ich bin ’ne, ich bin ’ne Hengstin!

Festival Mainstage alles voller VIP’s,
Plattenfirma, Chefetage alles voller VIP’S,
Very Important Penises wo sind die Ladys im Business?
Wo man auch nur hin tritt überallen Schlips!

Es ist seit Hunderten von Jahren dieselbe Leier,
Das selbe Lied zu dem die Chauvis gerne feiern!
Sie besaufen sich am Testosteron bis sie reihern!
Ich seh so viele Männer und so wenig Eier!

Erzähl mir nicht, dass das Thema kalter Kaffee ist,
Man muss nicht alles schwarz anmalen um zu erkennen was Sache ist
Wir leben in ’nem Herrenwitz, der nicht zum Lachen ist,
Doch wenn man ihn nur gut erzählt, merkt keine Sau, wie flach er ist!

Reiß dich vom Riemen, es ist nie zu spät
Denn ein Weg entsteht erst wenn man ihn geht
Ich bin kein Herdentier, nur weil ich kein Hengst bin
Ich bin ’ne, ich bin ’ne Hengstin

Trau keinem System, trau nicht irgendwem
Lass dich nicht von Zucker und Peitsche zähmen
Ich bin kein Herdentier, nur weil ich kein Hengst bin
Ich bin ’ne, ich bin ’ne, ich bin ’ne Hengstin

Weitere Gedanken zum Stück findest du hier: Du Schurke, Vater Rhein, Die Waffe eine Frau, Ordnung ist der Feind der Freiheit

Du Schurke!

Ach, wie schön ist es, wenn das Böse so durch und durch Böse sein darf. Erinnert ihr euch noch an „die zauberhafte Welt von Oz“? Zwei gute und zwei böse Hexen – und die bösen sind dabei so durchtrieben, dass völlig klar ist, wer und was bekämpft werden muss.

Das hilft! Es gibt Orientierung und führt vor Augen, welches Handeln keine guten Absichten hat und sich gegen den Menschen wendet.

Wer ist also der Schurke im Nibelungen-Lied, von dem wir direkt wissen: „so bitte nicht“? Alle Finger in den Interpretationen zeigen sofort auf Hagen. Er, der Manager, der hinter den Kulissen die Fäden in der Hand hat, ist es, der den Figuren immer wieder leid antut.

Wir fanden, dass wird der Figur nicht gerecht. Und leider ist das „echte“ Leben auch nicht so schön in „gut“ und „böse“ zu teilen, so sehr wir uns das wünschen. Die „böse“ Banken, die „bösen“ Manager, die „bösen“ Politiker, die nur ihre Interessen im Blickfeld haben. Doch das greift zu kurz. Hinter jedem Handeln steckt eine Motivation, die manchmal komplizierter ist, als man zu Beginn meint. Wer schnell ein Urteil parat hat, wird oft diesen komplexen Umständen nicht wirklich gerecht. Denn warum handelt jemand in einer bestimmten Art und Weise? Was im echten Leben schwer zu ergründen ist, ist beim Schreiben eines Theaterstücks die zentrale Herausforderung der Figurenkonzeption. Und wir wollten Hagen anders als Hebbel* nicht vollständig diesem bösen Image überlassen. Uns hat interessiert, warum Hagen so handelt, wie er es tut, immer in der Annahme, dass er damit ein (gutes) Ziel erreichen will. Natürlich verfolgt er seine Interessen, aber wer tut es nicht? Natürlich versteht er sich im geschickten Zusammenführen von Situationen – er wäre der bessere König gewesen (und er weiß es)! Und stattdessen sieht er die Unfähigkeit König Gunthers stets vor sich und ist bemüht, Worms indirekt zu führen. Ihm ist es nicht gestattet, auf Augenhöhe mit dem Königshaus zu sprechen – der gedemütigte Bewerber Conrad von Ingelheim führt Hagen das schnell vor Augen: Wie ist noch mal gleich ihre Position am Hof?

Und so kommt eins zum anderen. Nicht jeder Plan geht auf und am Ende entsteht ein Chaos, das auch er nicht mehr beherrscht und ihn überfordert. Er macht die Fehler, die alle Figuren weiter an den Abgrund führen.

Aber eindeutig „böse“ ist er nicht. Hagen ist Täter. Und Opfer.

)* Christian Friedrich Hebbel (1813 – 1883) war ein deutscher Dramatiker und Lyriker. 1861 veröffentlicht er das Theaterstück „Die Nibelungen“, eines seiner wichtigsten Werke.

Weitere Gedanken zum Stück: Die Waffe einer Frau / Vater Rhein / Mann über Bord / Ordnung ist der Feind der Freiheit

Die Waffe einer Frau …

… ist eine Waffe. So verteidigt Krimhild in Xanten ihre „Kampfschule für junge Frauen“. Das Autorenteam hat sich mit dieser Stelle intensiv auseinandergesetzt. Zu Beginn stand hier ein Waisenheim, für das sich Krimhild einsetzen sollte. Typisch Frau eben, die mit „anderen“ Waffen kämpft, sozial engagiert ist und für die sanfte Veränderung steht. Genau dieses Bild befördert die gespurten Rollenbilder und bekräftigt das Trennende.

Was wäre eigentlich, wenn die Kategorie „Mann und Frau“ keine Rolle mehr spielte und es nur noch eine gebe, nämlich „den Menschen“. Das wäre das Ende des Rassismus, denn wenn Menschen nicht nach ihrer Kategorie, sondern ihres eigenen Wesens nach beobachtet würden, kollabierten alle Vorbehalte gegen „Bevölkerungsgruppen“ jeder Art.

Zu dumm, dass unser Gehirn eben gerne zur besseren Einordnung der Wahrnehmung bevorzugt mit Kategorien arbeiten kann. Wenn wir unsere Welt sauber kartographieren gewinnen wir Überblick und Sicherheit. Daher teilen wir alles und jeden in Klassen, Gattungen und Gruppen ein. Nur dass genau eben diese Gruppierungen individuell immer wieder rasch an Grenzen stoßen und man sich plötzlich in Schubladen wiederfindet, aus denen man sich nur schwer und dann auch nur unter teilweise größten Anstrengungen bis hin zur Aufopferung befreien kann. Genau dieses Dilemma erleiden nahezu alle Figuren in „Krimhild“. Egal ob Krimhild oder Brunhild, Hagen oder Gunther, Ute oder Siegfried. Alle sind gefangen in systemischen Strukturen, die eine Entfaltung ihrer Persönlichkeit schlimmstenfalls ver- aber in jedem Fall behindern.

Würde es uns verwundern, wenn Siegfried, Hagen oder Etzel eine Kampfschule bauen wollten? Wahrscheinlich nicht. Die Provokation ist, dass dies eine Frau einfordert. Und das beschreibt das eigentliche Problem, von dem wir alle ein Teil sind. Wir müssen uns bewusst werden, dass stereotypisches Denken missbraucht wird, um Machtinteressen durchzusetzen. Wir müssen anfangen, bestehende Strukturen nicht als „Natur gegeben“ anzusehen und damit Unrecht billigend in Kauf nehmen. Unterschiede gibt es zwischen allen Menschen, aber allen ist auch eines gemein: dass sie eben Menschen sind. Und in diesem Sinne: Die Waffe eines Menschen, ist eine Waffe. Ganz egal, ob es eine Frau, ein Mann, ein Nigeraner oder Ostwestfale ist.

Weitere Gedanken zum Stück:

Vater Rhein / Mann über Bord / Ordnung ist der Feind der Freiheit

Vater Rhein

Leidenschaft, Gefühl, Schauer, Abenteuer – das sind die zentralen Motive der Romantik, deren Epoche sich bis ins späte 19. Jahrhundert streckte. Die damalige Zeit war geprägt durch massive gesellschaftlich Umbrüche: also hochgradig „disruptiv“ – wie man heute sagen würde. Die Industrialisierung hat die Lebenswelt der Menschen vollständig auf den Kopf gestellt. Nützlichkeitsdenken und Rationalität waren bestimmend.

In dieser Zeit entstanden zahlreiche Mythen und Legenden zum „Vater Rhein“. Der Fluss, der nach dem römischen Flussgott Rhenus benannt ist, hat unsere Region über Jahrhunderte maßgeblich geprägt. Für die Römer war er eine Grenze, die das Wilde (den germanischen Norden) von der zivilisierten Welt trennte (den „römischen“ Süden) – eine Trennung die in Köln bis heute noch im kulturellen Gedächtnis verankert ist, indem man von der rechtsrheinischen Seite gerne als „scheel Sick“ spricht.

Als Wirtschaftsfaktor, Transportweg und Grenze diente der Rhein also seit eh und je. Die Romantiker gaben ihm seine mythische Bedeutung zurück. In der Figur des „Vaters“ verdichteten sie Mythen und Legenden in dem prägenden Strom, den auch Richard Wagner in das Zentrum seiner rund um das Nibelungenlied gesetzten Ring-Trilogie stellt.

Was macht nun als der „Vater Rhein“ in unserem Remix?

Auch heute leben wir in einer „disruptiven“ Zeit: von der industriellen, produzierenden Gesellschaft zur digitalen, vollautomatisierten. Auch heute erleben wir die Sehnsucht nach dem Fiktiven, Anti-Rationalem. Also geben wir dem Rhein eine Stimme und lassen ihn „seine“ Geschichten wiedererzählen, brechen wir zusammen mit den Walküren von Zeit zu Zeit aus dem Fluss der Geschichte aus, um einen anderen Blick auf das Erzählte zu erhalten. Denn es ist nicht die Fiktion oder das Narrativ, die unsere Systeme bedrohen, sondern der Mangel an Reflexion und Perspektivwechsel.

Weitere Gedanken zum Stück: Die Waffe einer Frau / Mann über Bord / Ordnung ist der Feind der Freiheit

Gedanken zum Stück

Deine Welt. Unser Stück. Wir suchen immer die Relevanz. Wenn wir spielen, hat das was mit unser Welt zu tun. Also. Was können uns die Nibelungen heute noch mit auf dem Weg geben?

Hier in den Beiträgen posten wir ab und zu Gedanken und Impulse, die thematisch zum Stück passen (und vielleicht auch ins Programmheft kommen). Es sind manchmal nur Schnippsel oder Ideen, nicht immer direkt am Theatertext gebunden.

Ordnung ist der Feind der Freiheit ist ein Text von Regisseur Tom zu einem der zentralen Sätze von Brunhild aus dem Stück. Der kurze Text führt in die Themenbrandbeite von Krimhild ein.

Mann über Bord! ist ein Text von Victor Hugo, über das unser Dramaturgenteam gestoplert ist. Auch wenn er sich nicht direkt auf Krimhild bezieht, so trifft die hier beschriebene Situation doch auf die Figur gut zu.

Noch mehr? Bestimmt. Bald hier auf kjg-theater.de