Archiv der Kategorie: Gedanken zum Stück

Noch 3 Tage bis Medea – Reflections

Du willst dich vorab schon einmal einstimmen und dich etwas vorbereiten?

Hilfreiche Informationen (Parken, Zeiten, wichtige Hinweise) rund um deinen Besuch haben wir dir hier zusammengefasst.

Unseren Trailer kannst du gerne hier noch einmal anschauen.

Wenn du dich etwas einlesen willst, fassen wir dir hier noch einmal kleine Artikel aus der Reihe „Gedanken zum Stück“ zusammen, die wir in den letzten Monaten gepostet haben:

Machtlos gemacht zu werden, zerstört nicht deine Menschlichkeit
Skript der TV-„Comedy“-Show „Nanette“ von Hannah Gadsby (Netflix 1018) – eine starkes Plädoyer für Menschen, die sich wieder vollständig neu aufrichten mussten und über die Bedeutung von Erzählungen.

Warum Theater in der Kirche?
Gedanken zu unserer Spiritualität und warum KjG Theater genau hier in ein Gotteshaus gehört.

Über den Titelzusatz „Reflections“
Warum heißt das Stück im zweiten Teil „Reflections“ – es hat etwas mit unser Erzählweise zu tun.

Auf Reisen mit Medea
Dieser und die drei Folgebeiträge (Iolkos, Korinth und Kolchis) beleuchten noch einmal die zentralen Orte in der Handlung und geben hilfreichen Hintergrund.

Zeitlose Werte
Warum es wichtig ist, sich mit alt-griechischen Stoffen auseinanderzusetzen und welche Bedeutung sie für uns bis heute haben.

Das große Trotzdem
Warum es sich dennoch lohnt, in diesen Tagen der (Dauer-)Krisen optimistisch und zuversichtlich zu bleiben.

Machtlos gemacht zu werden, zerstört nicht deine Menschlichkeit

Wir sind besessen. Wir glauben, dass der Ruf wichtiger ist als alles andere, einschließlich der Menschlichkeit. Und wisst ihr, wer den Mantel dieser kurzsichtigen Lobhudelei auf sich nimmt? Prominente. Und Comedians sind nicht immun. Sie sind alle aus dem gleichen Holz geschnitten. Donald Trump, Pablo Picasso, Harvey Weinstein, Bill Cosby, Woody Allen, Roman Polanski. Diese Männer sind keine Ausnahmen, sie sind die Regel. Und sie sind keine Individuen, sie sind unsere Geschichten. Und die Moral unserer Geschichte lautet: „Das ist uns scheißegal. Wir kümmern uns nicht um Frauen oder Kinder. Wir kümmern uns nur um den Ruf eines Mannes.“ Was ist mit seiner Menschlichkeit? Diese Männer kontrollieren unsere Geschichten! Und doch haben sie eine abnehmende Verbindung zu ihrer eigenen Menschlichkeit, und es scheint uns nichts auszumachen, solange sie an ihrem kostbaren Ruf festhalten. Scheiß auf den Ruf. Die späte Einsicht ist ein Geschenk. (…)

Schaut, ich bin wütend. Ich entschuldige mich. Tu ich, ich entschuldige mich. Ich weiß … ich weiß, dass ein paar Leute im Raum sagen: „Nun, schau … ich glaube … sie hat die Kontrolle über ihre Spannung verloren.“ Das ist richtig. Da bin ich ein bisschen weiter gegangen. Ich bin also nicht sehr erfahren darin, Wut zu kontrollieren. Es steht mir nicht zu, auf einer Comedy-Bühne wütend zu sein. Ich soll … selbstironischen Humor machen. Die Menschen fühlen sich sicherer, wenn Männer wütende Comedy machen. Sie sind die Könige des Genres. Wenn ich es tue, bin ich eine elende Lesbe, die den ganzen Spaß und das Geplänkel ruiniert. Wenn Männer es tun, sind es Helden der Redefreiheit. (Ich liebe … Comedy mit wütenden weißen Männern. Es ist so lustig, es ist urkomisch. Sie sind bezaubernd. Warum sind sie wütend? Was geht, kleiner Kerl? Worüber sind sie wütend? Meine Güte, kann es nicht fassen. Sie sind wie die Kanarienvögel in der Mine, nicht wahr? Wenn sie es schwer haben … der Rest von uns ist weg. (…)

Wenn ich weiblich gewesen wäre, (wären bestimmte schlimme Dinge in meinem Leben) nicht passiert. Ich bin unkorrekter Weise weiblich. Ich bin unkorrekt, und das ist strafbar. Und diese Spannung, es ist deine. Ich helfe dir nicht mehr. Du musst lernen, wie sich das anfühlt, denn das… diese Spannung ist das, was Nicht-Normale die ganze Zeit in sich tragen, weil es gefährlich ist, anders zu sein! Zu den Männern … zu den Männern im Raum, ich spreche jetzt zu euch, besonders zu den weißen Männern, besonders zu den heterosexuellen weißen Männern. Zieht eure verdammten Socken hoch! Wie erniedrigend! Modeberatung von einer Lesbe. Das ist euer letzter Witz.

Mein ganzes Leben lang wurde mir nachgesagt, dass ich ein Männerhasser sei. Ich hasse Männer nicht. Ich hasse Männer nicht. Aber … es gibt ein Problem. Sehen Sie, ich glaube nicht einmal, dass Frauen besser sind als Männer. Ich glaube, Frauen sind durch Macht genauso korrumpierbar wie Männer, denn wisst ihr was, Jungs, ihr habt kein Monopol auf den menschlichen Zustand, ihr arroganten Scheißkerle. Aber die Geschichte ist so, wie ihr sie erzählt habt. Die Macht gehört euch. Und wenn ihr mit Kritik nicht umgehen könnt, keinen Witz vertragen oder mit eurer eigenen Anspannung ohne Gewalt umgehen könnt, müsst ihr euch fragen, ob ihr der Aufgabe gewachsen sind, das Sagen zu haben. Ich bin kein Männerhasser. Aber ich habe Angst vor Männern. Wenn ich die einzige Frau in einem Raum voller Männer bin, habe ich Angst. Und wenn ihr das für ungewöhnlich haltet, sprecht ihr nicht mit den Frauen in eurem Leben. Ich hasse Männer nicht, aber ich frage mich, wie sich ein Mann fühlen würde, wenn er mein Leben gelebt hätte. Weil es ein Mann war, der mich als Kind sexuell missbraucht hat. Es war ein Mann, der mich zu Tode geprügelt hat, als ich 17 war. Es waren zwei Männer, die mich vergewaltigten, als ich kaum in meinen Zwanzigern war. Sag mir, warum das in Ordnung sei? Warum war es in Ordnung, mich so aus dem Rudel zu holen und mir das anzutun? Es wäre humaner gewesen, mich einfach auf die hintere Koppel zu bringen und mir eine Kugel in den Kopf zu jagen, wenn es so ein Verbrechen ist, anders zu sein!

(…) Ich bin kein Opfer. Ich erzähle euch das, weil meine Geschichte wertvoll ist. Meine Geschichte hat einen Wert. Ich sage euch das, weil ich möchte, dass ihr wisst, ich möchte, dass ihr wisst, was ich weiß. Machtlos gemacht zu werden, zerstört nicht deine Menschlichkeit. Ihre Resilienz ist Ihre Menschlichkeit. Die einzigen Menschen, die ihre Menschlichkeit verlieren, sind diejenigen, die glauben, das Recht zu haben, einen anderen Menschen machtlos zu machen. Sie sind die Schwachen. Nachgeben und nicht brechen, das ist eine unglaubliche Kraft. Wenn du die Frau zerstörst, zerstörst du die Vergangenheit, die sie repräsentiert. Ich werde nicht zulassen, dass meine Geschichte … zerstört wird. Was ich getan hätte, um eine Geschichte wie meine zu hören. Nicht wegen der Schuld. Nicht wegen des Ansehens, nicht wegen Geld, nicht wegen Macht. Aber um sich ein weniger allein zu fühlen. Sich verbunden zu fühlen. Ich möchte, dass meine Geschichte … gehört wird. Denn ironischerweise glaube ich, dass Picasso Recht hatte. Ich glaube, wir könnten eine bessere Welt malen, wenn wir lernen würden, sie aus allen Perspektiven zu sehen, aus so vielen Perspektiven wie möglich. Denn Vielfalt ist Stärke. Unterschied ist ein Lehrer. Fürchte den Unterschied und du lernst nichts. Picassos Fehler war seine Arroganz. Er ging davon aus, dass er alle Perspektiven vertreten könne. Und unser Fehler bestand darin, die Perspektive eines 17-jährigen Mädchens zu entkräften, weil wir glaubten, dass ihr Potenzial dem seinen niemals gleichkommen würde. Die späte Einsicht ist ein Geschenk. (…) Ein 17-jähriges Mädchen ist einfach nie, nie, nie in ihren besten Jahren! Ich bin jetzt in meinen besten Jahren! Würdest du dich mit mir messen?

Niemand würde es wagen … sich mit mir zu messen, denn ihr wisst alle … es gibt nichts Stärkeres als eine gebrochene Frau, die sich wieder aufgebaut hat.

Auszug aus Hannah Gadsby, Nanette, 2018, Netflix
Aus dem Englischen übersetzt. Original Transkript der gesamten Performance kann hier gefunden werden.

Warum Theater in der Kirche?

KjG Theater ist stolz auf das „K“ – Katholisch. „Katholisch“ bedeutet wörtlich übersetzt „das Ganze betreffend“. Getreu unserem Motto „Unser Stück. Deine Welt.“ greifen wir mit unseren Stücken immer wieder große gesellschaftliche und moralische Themen auf, die universelle Bedeutung haben. Bei Medea geht es neben der Frage nach dem Umgang mit „Fremdheit“ auch um die Bedeutung von Narrativen, Deutungsrahmen. Unser christlicher Glaube gibt viele Antworten auf brennende Fragen der Gegenwart. Als Gruppe setzen wir uns mit den Themen aktiv auseinander und suchen nach Antworten, auch auf Basis der christlichen Lehre und Spiritualität.

Natürlich ist das anders, als ein Krippenspiel. Aber die Themen berühren uns als junge Christen und wir bringen sie mit unserer Kreatvität und Spielfreude direkt vor Gott. Dass das nicht immer einem tradiionellen Kirchenbild entspricht wissen wir. Und finden das auch gut so. Denn insbesondere in den herausforderdenden Zeiten für Kirche und Christen ist es elementar zu zeigen, dass Kirche vielseitig und farbenfroh ist und sich Spiritualität ganz unterschiedlich ausdrücken kann, ohne dabei beliebig zu werden.

Daher sind wir stolz darauf direkt in der Kirche zu spielen. Der Raum steht im Dialog mit unserem Stück – und wird ganz nebenbei zu einem „Wohnzimmer“ für unsere Gruppe. Aktiv in Kirche zu sein, kann überraschend anders sein. Darin sehen wir eine Chance für die ganze, allumfassende – eben katholische – Kirche.

Was bedeutet „Reflections“?

„Medea – Reflections“ heißt unser Stück. Doch wofür steht Reflections? Wörtlich übersetzt steht es für ‚Überlegungen‘, ‚Reflexionen‘ oder ‚Spiegelbild‘. Die Zuschauer*innen tauchen mit Medea ein in ihre Erinnerungswelt ein. In Rückblicken setzt sich diese wie Fragmente zusammen und Medea erlebt die entscheidenden Stationen der tragischen Stationen, die sie am Ende in der Verbannung geführt haben. Medea reflektiert, beobachtet sich selbst, sieht ihr Spiegelbild.

Die Erinyen, auch bekannt als Rachegöttinen oder Furien, suchen als personalisiertes Gewissen Medea in ihren Erinnerungen heim. Sie ringen mit ihr und den Schlüsselfiguren, denen Medea begegnet ist. Sie begleiten das ganze Stück und immer wieder springen wir zwischen den Erinnerungen der Vergangenheit und den Gegenwarts-(Alb)-Träumen einer beinah zerstörten Medea.

Die Erzählweise ermöglicht es, die Geschichte zu raffen und in schnellen Bildfolgen die Schlüssel-Ereignisse spannend in Szene zu setzen. Somit verspricht „Medea-Reflections“ in der Tradition von KjG Theater, dass „alte Klassiker“ in moderner, jugendlicher Frische auf die Bühne gebracht werden!

Korinth – die Gewaltige

Die Gewaltige. Eine zarte Landzunge trennt die beiden Meere – den Sayonischen Golf (an den auch Athen angrenzt) und den Golf von Korinth (der das nördliche griechische Festland und die Pelepones im Süden trennt). Ganz in ihrer Nähe – ein mächtiger Tafelberg, der zudem über zahlreiche Quellen verfügt. Kein Wunder, dass Korinth eine der ältesten dokumentierten Siedlungen in Griechenland ist. Die Festung auf dem Tafelberg (Akrokorinth) ist eine beeindruckende Machtaussage, die von Nah und Fern wahrgenommen werden musste und war nur schwer einzunehmen. Bis weit in das Mittelalter hinein wurde von hier die Pelepones dominiert. Wer einmal heute in den Überresten der Anlage war, wird eine Ahnung haben, wie sich Akamas der Astronom und Berater des Königs in unserem Stück gefühlt haben muss, hier weit oben über allen Gipfeln der Umgebung mit einer Weitsicht, die ihm jede Bewegung aus jeder Himmelsrichting über Kilometer hinweg ermöglichte.
Aufgrund seiner strategischen Lage war es einer der wichtigsten Handelsplätze in der Antike. Gewaltige Stadtmauern haben den Hafen im Norden und die Festung umgeben, weitläufige Plätze, stattliche Häuser – eine wohlhabende Stadt, die keinen Hehl daraus macht, ihren Reichtum offen zur Schau zu stellen.
Nur zu verständlich, dass Iason nach dem Debakel in Iolkos hier eine neue Chance witterte, seine Reputation aufzubessern. Eine strategische Hochzeit mit dem Königshaus würden ihm ganz neue Optionen auf Macht ermöglichen, wenn er denn eines Tages König Kreon auf den Thron der Macht folgt. Und nur zu verständlich, dass die Kolcher in dieser Umgebung, in der sie außerhalb der Stadtmauern in einfachsten Behausungen leben mussten und täglich den Komfort und den Luxus vorgeführt bekamen, der für sie unerreichbar blieb, nie wirklich eine neue Heimat finden konnten.

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Kolchis – die Fremde

Die Fremde. Am Ende des Schwaren Meeres gelegen, in der schroffen, wenngleich durchaus fruchtbaren Gegend des Kaukasus. Legendär ist Kolchis für die antike Goldgewinnung und daher wohl auch Ziel zahlreicher Beutefahrten. Wahrscheinlich wurde dort das Gold aus den Flüssen mit Widderfellen gewaschen – die mythologische Grundlage für das „Goldene Vlies“. Kolchis war keine Stadt sondern bezeichnete streng genommen eine Landschaft. Rund um den Medea Mythos entwickelten sich entsprechende Fiktionen um diesen Ort am „Ende“ des Schwarzen Meeres.

Obgleich archäologisch Steinbauten in Kolchischen Städten nachweisbar waren, hält sich in den Erzählungen eher die einfache Holzbauweise „der Stadt“. Überhaupt ist Kolchis als Gegenstück zur griechsichen Stadt zu verstehen und als solches „barbarisch“ eingestuft – also nach Auffassung der Griechen auf einer neideren Kulturstufe. Die Bezeichnung „Barabarentum“ dient innerhalb des heleozentrischen Weltbilds (das auch unsere Kultur bis heute maßgeblich prägt) als Abgrenzung und Abwertung für die Andersartigkeit fremder Kulturen.

Die Fremde also. Wie können wir uns diese Stadt vorstellen, die den Argonauten so unvorstellbar anders vorgekommen sein muss. Fremde Gerüche, fremde Speisen, fremde Kleidung, fremder Schmuck – und allen voran fremde Bräuche, die, wenn nicht richtig eingeordnet, grausam anmuten – wie die Himmelbestattung, die im Kaukaus üblich war – Tote wurden in Teile gehackt und den Vögeln übergeben. Da der Boden zu felsig und das Holz zu kostbar waren, war dies eine opportune Möglichkeit, die Verstorbenen würdevoll zu begraben. Heute noch findet sich diese Tradition beispielsweise im Himalaya. Was auf uns fremd wirkt, ist für den Fremden vertraut – und dem Fremden geht es genauso andersherum.

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Iolkos – Die Unerinnerte

Die Unerinnerte. Iolkos – die Stadt, über die viel gesprochen wird, aber die keine Erinnerung wert ist. Es ist die Geburtsstadt von Iason. Sein Vater Aison war hier König und Iason hat den Anspruch auf den Thron. Doch durch die Fehde von Pelias wurde Aison und seine Familie ausgelöscht, nur Iason überlebte, gerettet von der Amme, weit weg gebracht zu Cheiron, dem Zentaur, einem strengen Lehrer. Dort soll Jason auf seine Aufgaben vorbereitet werden – eine Schule für Helden. Und Cherion ist weise – Helden müssen nicht nur Kampfmaschinen sein, sondern das Leben lesen können. Wie sehr er hier mit seinem Schüler gescheitert ist. Die Aussicht auf den Thron, die Aussicht auf Macht, die Aussicht ganz oben an der Pyramide zu stehen, das trieb Iason an. Und so stürzte er sich mit den anderen Helden und einer Heldin in „das größte Abenteuer der Zeit“. Wie sehr muss Pelias sich gefreut haben, als die Unternehmung Argo endlich die Gestade von Iolkos verließ. Die Gewissheit, dass er es nicht schaffen würde und selbst wenn, die Gewissheit, dass er bis dahin die Macht so ausgebaut hat, dass selbst wenn er zurück käme, er keine Chance haben würde, den Anspruch durchzusetzen.
Iolkos, eine Stadt im südlichen Thessalien, in der Nähe vom heutigen Volos gelegen, findet außer in der Agronautensage keine weitere Erwähnung in anderen Mythen. Wie können wir uns die Stadt vorstellen? So wie die meisten antiken Städte: wahrscheinlich eine Akropolis mit einer Festungsanlage aus Zyklopenmauer, die die Stadt mit Hafen übersieht. Sie ist es nicht weiter wert von Medea erinnert zu werden, denn das, was ihr hier widerfährt, passt nunmehr in ihr Bild von Iason, der zwar ausgezogen ist, der gößte Held der Geschichte zu werden, doch am Ende an seiner Unfähigkeit das Leben zu lesen gescheitert ist.

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Auf Reisen mit Medea

In den kommenden Tagen wollen wir dich ein wenig auf unser Stück einstimmen und dir vorab die Orte der Handlung vorstellen.

Orte der Handlung sind Städte, in denen Könige herrschen. Einen „griechsichen Staat“, wie wir ihn heute kennen, gab es nicht. Das, was wir „griechisches Reich“ nennen, waren Stadt-„Staaten“, die teilweise untereinander nicht unterschiedlicher sein konnten (man denke an die Rivalität von Athen – der „Wiege der Demokratie“ – und Sparta, und wie beide Städte auch kulturell kaum unterschiedlicher hätten sein können). Und das Leben in diesen „Stadt-Staaten“ ist auch grundsätzlich anders, als wir es in dem heutigen modernen Nationalstaat kennen. Die Bewohner*innen konnten sich frei zwischen den Städten (ohne Pässe) bewegen und ihre Geschäfte betreiben, die Staatsmacht konnte zwar Fron-Abgaben einfordern, aber das „normale“ Leben, war meist unabhängig von dem Leben in den Palästen und Königshäusern, solange nicht ein Krieg auf der Tagesordnung stand.
Gab es Medea wirklich? Ist die Geschichte der Argonauten wahr? Gab es Kreon und Kreusa wirklich? An den griechischen Mythen ist mehr wahrer Kern, als wir es heute glauben mögen. Das Konzept einer rein „fiktiven Erzählung“ (wie zum Beispiel Fantasy Literatur) ist eher neuzeitlich. Die großen grieischen Mythen und Sagen sind Erzählungen, die, wie das Wort schon sagt, mündlich überliefert wurden. Und jeder weiß, dass ein Fisch, den man geangelt hat, mit jeder neuen Erzählung etwas größer werden kann und die Umstände immer weiter ausgeschmückt wurden. Aber der wesentliche Kern, der Fisch, ist immer noch Ausgangslage. Und insofern kann man davon ausgehen, dass sich irgendwann vor vielen hundert Jahren, solche Gegebenheiten zugetragen haben.

Die drei wichtigsten Handlungsorte der Sage:

Iolkos – die Unerinnerte
Kolchis – die Fremde
Korinth – die Gewaltige

Zeitlose Werte

Oder warum uns die alten Griechen immer noch nahestehen und wir uns mehr mit ihrer Geschichte beschäftigen sollten. Ein Plädoyer von ANGELOS CHANIOTIS.

Aus ZEIT Geschichte 02/2022 („Die alten Griechen“)

Vor Jahren wurde ich bei einem Empfang in New York einem bekannten Milliardär vorgestellt. Als er nach meinem Beruf fragte, entspann sich in etwa folgender Dialog: »Ich bin Althistoriker.« — »Und wozu braucht man heute noch die Alte Geschichte?« — »Gefällt Ihnen die Musik von Bach?« – »Ja, natürlich.« – »Genauso wie die zeitliche Distanz zwischen seinen Kompositionen und uns den ästhetischen Genuss nicht beeinträchtigt, so verringert die Distanz zwischen uns und der grie¬chischen und römischen Antike nicht den Wert von menschlichen Erfahrungen. Die Antike ist kein Vorbild zur Nachahmung, sondern ein Schatz von menschlichen Erfahrungen, die unsere Gedanken und Gefühle stimulieren.«

Ich weiß nicht, ob diese Antwort meinen Gesprächspartner überzeugte. Für mich besteht die Aufgabe des Althistorikers jedenfalls darin, Aspekte antiken Lebens, antiker Gesellschaft und Kultur für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Umgekehrt prägt die Gegenwart unseren Blick auf die Antike. So wie in Romanen die Erfahrungen des Schriftstellers zum Ausdruck kommen,spiegelt sich in der Geschichtsschreibung der jeweilige Zeitgeist. Wenn sich zum Beispiel die Althistoriker des 19. Jahrhunderts (es waren fast ausschließlich weiße Männer aus Europa) vor allem mit der Herausbildung von Nationalstaaten beschäftigten, waren sie ebenso stark von ihrer eigenen Welt beeinflusst wie die Althistoriker des ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhunderts (nun Europäer und Lateinamerikaner, Männer und Frauen, weiß, braun und schwarz), die ihr Augenmerk verstärkt auf die Frauen oder auf politisch-kulturell Außenstehende richten. Aus gegenwärtigen Interessen resultieren die Fragestellungen, die Althistoriker an die Geschichte richten. So stehen heute auch Themen wie Klimawandel und Wirtschaftskrise, Populismus und soziale Medien, Nationalismus und Globalisierung auf der Agenda der Alten Geschichte.
Indem die Althistoriker solche Themen aufgreifen und sich mit weit zurückliegenden Erlebnissen und Konflikten, Hoffnungen und Enttäuschungen auseinandersetzen, helfen sie uns, den Blick auf die Gegenwart kritisch zu schärfen. Auf diese Weise tragen sie dazu bei, unser Leben bewusster zu führen.

Warum aber lohnt es sich, den Blick insbesondere auf die griechische Antike zu richten, also auf die Zeit vom ersten Erscheinen einer Hochkultur im späten 3. Jahrtausend im minoischen Kreta (ihre Träger waren keine Griechen) bis zum Selbstmord Kleopatras und dem Ende des letzten großen Königreiches im Jahr 30 v. Chr.? Geht es nur darum, unsere Neugierde zu befriedigen? Suchen wir nach den Ursprüngen uns bekannter politischer Institutionen, Kunst- und Literaturformen oder Worte? Oder hat die griechische Geschichte einen eigenen Wert?
In der Öffentlichkeit ist das antike Griechenland bis heute ausgesprochen präsent – in Wörtern und Begriffen, die wir benutzen (Amnestie, Demokratie, Tyrannei, Museum oder kolossal), in Aufführungen antiker Dramen, im Einfluss der griechischen Mythologie auf Kunst und Literatur, in der Popkultur, der allgemeinen Bildung, der Lektüre populärwissenschaftlicher Werke oder im Besuch eines archäologischen Museums. Sogar wenn wir uns als Europäer bezeichnen, verwenden wir einen Begriff, der im antiken Griechenland seinen Ursprung hat: Denn Europa (»die mit dem breiten Gesicht«) war nicht nur eine Prinzessin, die von Zeus in Stiergestalt aus ihrer Heimat in Phönizien, dem heutigen Libanon, entfuhrt und nach Kreta gebracht wurde, sondern auch die Bezeichnung einer Region, die ursprünglich in Mittelgriechenland lag, dann aber alle Gebiete westlich der Ägäis und des Schwarzen Meeres umfasste, die nicht zu Asien gehörten.
Seit den Perserkriegen im 5. Jahrhundert v. Chr. wurde Europa zu einem politisch-kulturellen Sammelbegriff, der in bewusster Abgrenzung benutzt wurde. Das mit dem Perserreich identifizierte »Asien« galt als Gebiet autoritärer Monarchen, während das mit Griechenland und seinen westlichen und nördlichen Nachbarn identifizierte »Europa« das Land der freien Bürgergemeinden war. Der griechische Geschichtsschreiber Herodot sprach um 430 v. Chr. von einem ewigen Konflikt zwischen Asien und Europa, der nach der romantischen Ansicht Johann Gustav Droysens mit den Eroberungen Alexanders ein vorläufiges Ende zu finden schien: Alexanders Heer habe in Asien Wurzeln geschlagen und begonnen, »sich mit denen, die das Vorurtheil von Jahrhunderten gehaßt, verachtet [und] rohe Barbaren genannt hatte, zu versöhnen und zu verschmelzen«, schrieb der deutsche Historiker 1833 in seiner Geschichte Alexanders des Großen. »Es begann sich Morgen- und Abendland zu durchgähren und eine Zukunft vorzubereiten, in der beide sich selbst verlieren sollten.«
Auch heute sind die Europäer mit Fragen von Identität und Integration, Abgrenzung und Verschmelzung konfrontiert- kaum anders als die Griechen seit den Perserkriegen vor 2500 Jahren.

Oft hört man außerdem die Phrase, das antike Griechenland sei die Wiege der Demokratie. Ebenso wahr ist aber auch, dass das antike Griechenland die Wiege der Demagogie ist, einer unvermeidlichen (allerdings auch nicht unheilbaren) Wunde demokratischer Verfassungsordnungen. Wenn die klassische Welt für das Verständnis aktueller politischer Phänomene relevant ist, etwa für den Aufstieg autoritärer Regime oder das populistische Verhalten von Politikern, so hängt dies nicht mit einer vermeintlichen Überlegenheit der griechischen Antike gegenüber anderen Epochen oder Regionen zusammen, sondern ganz einfach mit der Tatsache, dass dort Phänomene zum ersten Mal auftreten, die gewisse Analogien zu unserer Welt aufweisen. Dazu gehören das Leben in urbanen Zentren, die Bildung wirtschaftlicher und kultureller Netzwerke, frühe Formen der Globalisierung, multikulturelles Zusammenleben, Mobilität, technologischer Fortschritt oder Experimente mit Bürgerbeteiligung.
Nehmen wir etwa das Phänomen des theatralischen Verhaltens in der Politik, das Bemühen von Staatsmännern, ein zumindest teilweise vorgetäuschtes Bild von sich selbst zu vermitteln. Um Kontrolle über die Gefühle und Gedanken anderer zu gewinnen, um Mideid, Zorn, Angst, Bewunderung oder Respekt hervorzurufen, greifen Politiker schon in der Antike auf verschiedene Tech-niken verbaler und nonverbaler Kommunikation zurück – vom sorgfältig abgefassten Text über die Wahl der Kleidung bis zur Kontrolle von Stimme und Körpersprache. Die politische Bedeutung des einstudierten und inszenierten Verhaltens lässt sich gut im klassischen Athen beobachten. So zitiert der Geschichtsschreiber Thukydides eine Rede des Demagogen Kleon, in der dieser das versammelte Volk mit den Kampfrichtern vergleicht, die die Preise in den dramatischen Wettkämpfen vergeben. Die Volksversammlung, der Ort, an dem politische Entscheidungen getroffen wurden, ähnelte einer Bühne, auf der den Sieg davontrug, wer den besten Text und vor allem die beste Inszenierung darbot.
Nach einem misslungenen Auftritt des Staatsmannes Demosthenes in der Volksversammlung erklärte ihm der Schauspieler Andronikos, seine Worte seien ausgezeichnet gewesen, die Aufführung aber mangelhaft. Als der Schauspieler betont theatralisch dieselbe Rede hielt, erkannte Demosthenes den Unterschied und nahm bei ihm Unterricht. Als man ihn später fragte, was denn das Wichtigste in der Redekunst sei, soll seine Antwort gelautet haben: »Die Performanz.« Und das Zweirwichtigste? »Die Performanz.« Und das Dritte? »Die Performanz.«
Durch die Verbreitung der Theateraufführungen seit dem 5. Jahrhundert lässt sich eine Häufung theatralischer Elemente nicht nur in Reden, sondern auch in der Kunst beobachten. Die Statuen von Politikern – Mitgliedern der reichen Elite – in den hellenistischen Städten zeigen den tugendsamen Bürger mit dem passenden Kleid und dem faltenreichen Gesicht, das seine Hingabe und seine Erschöpfung durch die Last der politischen Verantwortung zum Ausdruck bringen soll. Der römische Rhetorik-Lehrer Quintilian, dessen Schriften auf hellenistische Vorbilder zurückgehen, gab Rednern den Rat, sie sollten ihre Erschöpfung zur Schau stellen, indem sie zum Beispiel ihren Mantel geschickt fallen lassen, Ströme von Schweiß produzieren und Zeichen von Müdigkeit zeigen; dadurch würden sie signalisieren, dass sie jede Mühe auf sich genommen hätten, um für das Wohlergehen ihrer Mitbürger zu sorgen.
Ein solch theatralisches Verhalten hat Schule gemacht. Der antike griechische Historiker Polybios berichtet, wie König Antiochos IV. sich um 170 v. Chr. dem Volk als betont umgänglicher und nahbarer Politiker präsentierte: »Oft zog er das königliche Gewand aus und trug die Toga, ging in der Agora herum, nahm an den Wahlen teil und bat die Menschen um ihre Stimme, umarmte einige und bettelte andere an, um als Aedil oder Tribun gewählt zu werden.« Der autoritär regierende König spielte die Rolle des Bürgers, der sich um ein öffentliches Amt bewirbt – Kostümwechsel und volksnahes Auftreten sollten die Illusion einer demokratischen Herrschaft erzeugen.
Zwei Millennien später beobachten wir, wie Politiker mithilfe von Photoshop oder gefärbtem Haar versuchen, sich den Eindruck von Jugend und Kraft zu geben. Und immer noch wechseln Kostüm und Maske. Russlands Präsident Putin lässt sich mal im seriösen Anzug, mal mit freiem Oberkörper fotografieren – das Autoritäre seiner Herrschaft vermittelt sich in einem Schauspiel traditioneller Männlichkeit. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump trat entweder bedrohlich mit militärischer Jacke oder volksnah mit Baseballkappe auf – seine Anhänger sollten glauben, der Milliardär verstehe die Nöte des »kleinen Mannes«.

Die antike Demokratie und die antike Demagogie sind nur zwei Beispiele dafür, wie die griechische Geschichte in einen Dialog mit unserer Zeit treten kann. Generell lassen sich die meisten Themen althistorischer Forschung auf aktuelle Probleme beziehen. So diente etwa im 19. und frühen 20. Jahrhundert das Studium des Römischen Reiches als eine der Grundlagen für die Untersuchung des Imperialismus, damals vor allem im Zusammenhang mit dem britischen Empire. Heute werden oft die hellenistischen Bundesstaaten als frühe Formen von Föderalismus und repräsentativer Demokratie herangezogen, um den Prozess der europäischen Einigung kritisch zu betrachten. Und die athenische Demokratie dient als Folie für Vergleiche, wenn in den Politik- und Sozialwissenschaften oder in der Öffentlichkeit mal wieder über eine Neubelebung unserer Demokratie debattiert wird.
Wiederholt war die Antike Gegenstand ideologischer Ausbeutung, vor allem durch die Nationalsozialisten oder die Verreter der britischen Kolonialherrschaft, aber auch durch die Frauenbewegung oder andere politische Strömungen. In den 1930er-Jahren war der Künstler Hugo Gellert nicht nur vom Marxismus und von der Arbeiterbewegung inspiriert, sondern ebenso von den Fabeln des griechischen Dichters Asop; seine Li-thografien und Illustrationen (Aesop Said So, 1936) waren ein Angriff auf die Industriellen und Kapitalisten seiner Zeit. Ähnlich wurde Spartakus zum Symbol des unermüdlichen Kampfes gegen Unterdrückung und Sklaverei; er gab nicht nur einer Gruppe deutscher Revolutionäre zwischen 1916 und 1919 seinen Namen, sondern auch den malenden »Neuen Spartakisten« der Moderne.

Der Dialog zwischen der »klassischen« und der zeitgenössischen Welt ist stets lebendig, die Fragestellungen verschieben sich. Aktuell geht es vor allem um die Bedeutung von Emotionen in der Politik — man denke an die »Wutbürger« —, um Netzwerke oder Identitätsbildung. Die Fragen der Althistoriker folgen dem: Wie bilden sich Identitäten, wie reagieren Menschen auf das Fremde? Wann wird kulturelle und religiöse Vielfalt als Bereicherung toleriert, wann als Bedrohung verfolgt? Am Beispiel der Antike lässt sich außerdem studieren, wie Menschen mit Krisen und Naturkatastrophen fertigwerden. Welche Folgen hatte etwa die Epidemie in Athen 430 v. Chr. auf Moral, Politik und Religion? Welche Vorstellungen hatten die Griechen von göttlicher Gerechtigkeit und Krankheit als Strafe?
Neue Themen ergeben sich aber nicht nur aus aktuellen Anlässen, sondern auch durch die Erschließung neuer Quellen, die Entdeckung bisher unbekannter Texte – entweder Papyri oder Steininschriften, die alle nur denkbaren Aspekte des Lebens beleuchten, von der großen Politik bis zur individuellen Sexualität.
Die Texte auf Papyrus stammen fast ausschließlich aus Ägypten, Steininschriften hingegen werden in allen ehemals griechisch besiedelten Gebieten gefunden, von Südrussland bis Äthiopien, von Spanien bis Afghanistan.

Mein hier gehaltenes Plädoyer für den lehrreichen Wert der griechischen Geschichte stößt nicht überall auf Zustimmung. Bisweilen ist die Antike ganz aus unserem Bildungskanon verschwunden: Im Schulunterricht zum Beispiel wird dem klassischen Altertum nur noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Zum Teil ist dies eine Reaktion auf die Tatsache, dass seit der Aufklärung zu viel Gewicht auf die griechische und römische Antike gelegt worden war — auf Kosten der Berücksichtigung anderer Kulturen. Ich nenne dies das »Gus-Portokalos-Syndrom« – mein Ausdruck für eine einseitige, selektive Betrachtung und kritiklose Idealisierung der griechischen Kultur.
In dem Film My Big Fat Greek Wedding behauptet Gus Portokalos, ein griechischer Einwanderer in Chicago, dass jedes Wort aus dem Griechischen stamme. »Kimono« etwa leitet er vom griechischen Wort chimonas (»Winter«) ab: »Was tragt ihr im Chimonas, um euch warm zu halten? Einen Rock. Seht her! Chimonas – Kimono.« In seiner Welt gibt es zwei Kategorien von Menschen: die Griechen und diejenigen, die gerne Griechen wären. Gus nimmt einen Ausländer als Schwiegersohn an, schließlich ist sein Name griechischer Abstammung: Miller, also ursprünglich Milo (Apfel). Da Portokalos mit Portokali (Orange) zusammenhängt, konstatiert Gus: »Wir sind unterschiedlich, aber letztendlich sind wir alle Früchte.« Gus kennt keine Bigotterie; aber nur ein kleiner Schritt trennt das Wunschbild einer dominanten Kultur vom Glauben an die Überlegenheit einer Gruppe, Nation oder Rasse.
Dass dem Studium des antiken Griechenlands und Roms in der westlichen Bildung, insbesondere in Europa, lange Zeit eine privilegierte Stellung eingeräumt wurde und dass Griechenland und Rom manchmal idealisiert und mystifiziert wurden, sollte den Wert dieses Studiums heute aber nicht schmälern. Zumal sich das Thema internationalisiert hat: Die griechische Antike in einen Dialog mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts treten zu lassen ist inzwischen Aufgabe der Althistoriker nicht nur in Europa und Nordamerika, sondern auch im Fernen Osten oder in Lateinamerika. Durch die Jahrhunderte überliefert und zum »Klassiker« des bürgerlichen Bildungskanons erhoben, haben die griechische Kunst und Literatur ihre ethnischen, geografischen und zeitlichen Grenzen überschritten und einen universellen Wert erlangt. Sie konfrontieren Männer und Frauen zu jeder Zeit und in jeder Kultur mit grundlegenden Problemen der menschlichen Natur, archetypischen emotionalen Konflikten und wiederkehrenden Verhaltensmustern.
Nehmen wir zum Beispiel eine Szene aus Homers Ilias. In Buch 24, dem letzten, tritt Priamos, der König von Troja, an Achilles heran, der seinen Sohn Hektor getötet hat, und bittet um die Übergabe des verstümmelten Leichnams, um ihn zu bestatten. Wie kann Priamos den Mann überreden, der in Trauer und Wut über den Tod seines Freundes Patroklos den Leichnam Hektors hinter seinen Wagen gebunden und um die Mauern Trojas geschleift hat? Priamos kniet vor Achilles, küsst die Hand, die mehrere seiner Söhne und Verwandten getötet hat, und sagt vier Worte: »Denk an deinen Vater«.
Vier Worte brechen den unzerbrechlichen Krieger. Sie schaffen ein emotionales Band zwischen den Feinden, indem sie an das erinnern, was die Feinde eint: die Menschlichkeit. Achilles denkt an seinen Vater, der wie Priamos den Tod eines Sohnes beklagen wird, und kann die Bitte des alten Mannes nicht abschlagen. Vereint im Schmerz – der eine über den Tod eines Sohnes, der andere über den Verlust eines Freundes —, aber vor allem vereint durch die gemeinsame Menschlichkeit, weinen der trojanische König und der griechische Held gemeinsam. Schon allein deshalb, um Homers Verse im Original lesen zu können, lohnt es sich, Altgriechisch zu lernen.

Warum also sollte man sich heute noch der griechischen Geschichte widmen? Wenn Ihnen eine Sonate Beethovens oder ein lateinamerikanisches Volkslied Freude bereitet, wenn Sie ein Drama Shakespeares rührt, wenn Sie sich von einem Gemälde da Vincis oder von einer altjapanischen Zeichnung angezogen fühlen, kennen Sie die Antwort. Sie haben eine Erfahrung gemacht, die jeder Althistoriker bei seiner Beschäftigung mit einer noch ferneren Vergangenheit macht: die Erfahrung, dass der Wert des von Menschen Erschaffenen keineswegs vom zeitlichen Abstand zu uns abhängt, sondern von seiner Fähigkeit, Gefühle, Träume und Gedanken in uns zu wecken.

Das große Trotzdem

Es gibt wenig Anlass zum Optimismus in diesen Tagen. Aber ohne Hoffnung leben? Das geht nicht. 

Von Peter Neumann aus: DIE ZEIT Jahrgang 2022 Ausgabe: 16 Hoffnung in Kriegszeiten: Das große Trotzdem

Am Anfang war nicht Hoffnung, sondern Rache. Jedenfalls in der griechischen Mythologie: Zur Strafe, weil sie heimlich in den Besitz des Feuers gelangt waren, schickten die Götter den Menschen eine wunderschöne Frau namens Pandora, die eine Büchse, voll mit Übeln, bei sich trug. Licht hatte die Welt werden sollen, hell und aufgeklärt. Doch plötzlich wurde sie dunkel und trostlos. Denn als Pandora den Deckel von der Büchse nahm, entwichen aus deren Innerem Mühsal und Leid, Krankheit und Laster. Einzig die Hoffnung, die tief unter all dem Bösen verborgen lag, schaffte es nicht mehr nach draußen und blieb in jener Büchse der Pandora zurück.

Auch heute, über zweieinhalb Jahrtausende nach Hesiod – dem Ackerbauern und Hirtendichter, der den Mythos von der unheilvollen Büchse zuerst überliefert hat –, ist die Welt noch immer ein Ort voller Übel, Gefahren und schrecklicher Plagen und die Hoffnung ein scheuer und seltener Gast. Längst nicht abgeklungen sind die Corona-Stürme der vergangenen beiden Jahre, die uns Machtlosigkeit, Angst und Trauer bescherten, jetzt hält ein Krieg auf europäischem Boden die Welt in Atem und zwingt Millionen Menschen, ihre Wohnungen und Häuser, ihre zerstörten Dörfer und Städte zu verlassen. Schon steht eine Hungersnot am Horizont, während andernorts der Klimawandel ungebrochen anhält. Man muss die Krisen, die sich rund um den Erdball aufstauen, gar nicht erst alle aufzählen, um zu erkennen: Es gibt nichts zu beschönigen – wir leben in finsteren Zeiten.

Und dennoch will es so scheinen, als halte sich die Hoffnung noch immer tapfer am Leben, und sei es am Grund eines dunklen Gefäßes. Als sei – trotz verzweifelter Weltlage – auch heute noch nicht alles verloren. Da war vor nicht allzu langer Zeit die Suche nach einem baldigen Impfstoff gegen das tödliche Virus – und die Hoffnung wurde dank eines (mittlerweile weltberühmten) Forscherpaars aus Mainz Wirklichkeit. Da ist der Vater, der nach Ausbruch des Krieges mit seinen Kindern aus der Ukraine fliehen will, selbst aber nicht ausreisen darf – weshalb er die Kinder einer unbekannten Frau in die Arme drückt. Auch sie hat zwei Söhne, die aber erwachsen sind und wegen des Kriegs im Land bleiben müssen. Die Frau nimmt die fremden Kinder an sich und überbringt sie der Mutter, die auf der anderen Seite der Grenze in Ungarn wartet. Eine wahre Geschichte – wahr wie die Tatsache, dass auch jetzt in den Kellern und Bunkern von Kiew, in den rettenden Schutzräumen unter der Erde, Kinder zur Welt kommen, die ihre Eltern nicht fragen, ob Krieg sei. Ist also doch nicht alles vergebens?

Es sind Momentaufnahmen wie diese, die zeigen, dass Menschen vieles im Leben verlieren können. Ja, eigentlich alles: Heimat, Besitz, geliebte Personen. Und es gibt nichts, was ihnen diesen Verlust ersetzen, geschweige denn ihn wiedergutmachen könnte. Eines illustrieren sie aber auch: dass es da etwas gibt, von dem wir offenbar nur sehr schwer lassen können – die Hoffnung. Hoffnung darauf, dass sich noch im Augenblick der tödlichen Gefahr die Möglichkeit eines Auswegs auftut wie eine unsichtbare Tür in der Mauer. Eine Flucht nach vorne.

Die Hoffnung, so hat es der Philosoph Ernst Bloch (1885–1977) auf den Begriff gebracht, ist ein „Prinzip“. Es kann nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden. Es ist einfach da, ein Lebenselixier. Wir wüssten gar nicht, wer wir sind, wenn wir nicht immer wieder über die beschränkten Verhältnisse unserer Wirklichkeit hinaushofften: „Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus, macht die Menschen weit, statt sie zu verengen“, schreibt Bloch in seinem sprachgewaltigen, Mitte der Fünfzigerjahre zuerst in der DDR, später in der BRD erschienenen mehrbändigen Werk Das Prinzip Hoffnung, das ihn für Generationen von Lesern bis heute zum Stichwortgeber in der Not gemacht hat. Kein Nein, so lautet Blochs Überzeugung, könne jemals so stark und laut sein, dass es nicht von einem in ihm selbst verborgenen Ja übertrumpft und damit besiegt werden könnte.

Bloch war ein Sänger der Hoffnung. Ein Tagträumer. Ein leidenschaftlicher Utopist. Voll wilder Lust an der Spekulation, die ihn nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil 1949 in die Arme des sozialistischen Systems im Osten trieb. Nicht nur der Mensch, auch die Welt selbst, glaubte er, sei im Wesentlichen noch unfertig. Die Rolle des quasioffiziellen Staatsphilosophen fiel dem überzeugten Marxisten dabei nicht von ungefähr zu. Erst geraume Zeit später bekannte sich Bloch – der Stalin noch bis in die frühen Jahre der DDR hinein als einen Ausbund der Weisheit feierte – zu dem monströsen politischen Irrtum, dem er verfallen war. Denn auch ihm selbst sollte es bald an den Kragen gehen: Schon nach dem ungarischen Volksaufstand 1956 wurde er aufgrund von politischen Differenzen mit der Nomenklatura an der Uni in Leipzig zwangsemeritiert und kaltgestellt. Und als im August 1961 schließlich die Berliner Mauer hochgezogen wurde, kehrte Bloch von einer Reise zu den Bayreuther Festspielen nicht zurück. Prinzip Abgang.

Hoffnung allein macht die Welt noch nicht besser. Sie kann trügen, verführen und uns auf gefährliche Irrwege leiten. Oder wie kann es sein, dass ausgerechnet der erste Denker der Hoffnung sich einer Diktatur an den Hals warf? Wäre es da nicht klüger, man verzichtete gleich ganz auf die Hoffnung und ihre falschen Versprechen? Als Franz Kafka einmal von seinem Freund und Mentor Max Brod gefragt wurde, ob Gott etwa ein böser Demiurg sei oder ob es noch irgendeine Hoffnung jenseits der uns vertrauten Welt gebe, soll er kurz gelächelt und dann, wie immer verrätselt, zur Antwort gegeben haben: „Oh, es gibt Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung – nur nicht für uns.“

Der Zukunftsglaube ist auf einem historischen Tiefpunkt

Hoffnung kann schwinden. Sie kann in eine fundamentale Sinnkrise geraten – und in Verzweiflung münden. „Ihr, die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren“, prangt als niederschmetternde Botschaft am Eingang zur Hölle in Dantes Göttlicher Komödie. Und noch viele Jahrhunderte später rät uns der französische Existenzialist Albert Camus im Mythos des Sisyphos, die Sache mit der Hoffnung am besten gleich zu den Akten zu legen. Wozu die ganze Anstrengung, wenn der Klotz, den wir gerade erst den Berg hinaufgeschafft haben, doch immer wieder den Abhang hinabrollt und damit alles mühsam Erreichte wieder zunichtemacht? Ist es nicht schier zum Verzweifeln, dieses nicht enden wollende Unglück? Nicht ganz. Die höchste Form der Hoffnung, sagt Camus mit einer spürbaren Lust an der Figur des Absurden, sei die „überwundene Verzweiflung“. Also jener Moment, in dem wir der Sinnwidrigkeit der Welt nicht mehr auswichen, nicht mehr ständig versuchten, gegen sie anzukämpfen, sondern stattdessen entschlossen und mit voller Überzeugung in sie einwilligten. Sisyphos müsse man sich ebendeshalb als einen „glücklichen Menschen“ vorstellen.

Schaut man auf die Zahlen, so befindet sich der Zukunftsglaube hierzulande gegenwärtig auf einem historischen Tiefpunkt. Nach einer im vergangenen Monat veröffentlichten Allensbach-Umfrage blicken nur noch 19 Prozent der Befragten mit Hoffnung auf die nahe Zukunft. So wenige wie noch nie. Schockwellen, die den Optimismus angreifen, hat es zwar immer wieder gegeben. Aber weder der Koreakrieg in den Fünfzigerjahren noch die Ölkrise Anfang der Siebzigerjahre, noch Nine-Eleven, noch die Finanzkrise 2008 haben das Zukunftsvertrauen derart erschüttert wie die aktuellen blutigen Ereignisse im Osten Europas. Wer jetzt noch auf das Prinzip Hoffnung setzt, so scheint es, ist selbst schuld, wenn er in nicht allzu ferner Zukunft schrecklich enttäuscht wird.

Die Hoffnung aber ist unverwüstlich. Keine bloße Zuversicht, die mal stärker, mal schwächer sein kann, sondern eine Form der Überzeugung, das Richtige zu tun. Eine Kraft, den Kopf hochzuhalten, wenn alles fehlschlägt. Noch mitten im größten Unglück standzuhalten. Hoffnung ist nicht nur ein Zustand, ein Gefühl. Wir haben sie nicht bloß, sondern sie kann zur Erfahrung der Selbstwirksamkeit werden, wenn uns gegen alle Erwartungen, manchmal auch nur mit einem einfachen Handgriff, etwas gelingt. Das unterscheidet das Hoffen vom ungezügelten Schwärmen, das sich vorzugsweise in der Nähe seiner zukünftigen Erfüllung herumtreibt, aber schlappmacht, wenn es nicht bald erhört wird.

Mit solch einer fatalen romantischen Luftkutscherei macht sich echte Hoffnung nicht gemein: Schon bei Paulus, im berühmten ersten Brief an die Korinther, taucht sie neben dem Glauben und der Liebe als eine der drei unverlierbaren göttlichen Tugenden auf. Und wenn auch die Liebe, wie Paulus im furiosen Schlussakkord seines Hoheliedes vorbringt, die „größte unter ihnen“ ist, so bleibt doch die Hoffnung eine der Geisteskräfte, die nach christlicher Auffassung in die Seele der Gläubigen „eingegossen“ sind. Glaube, Liebe, Hoffnung sind langlebiger und zäher als all die Rückschläge, die sie auf dem langen Weg ihrer Realisierung immer wieder zu erleiden haben. „Die Liebe“, so heißt es da in einem Vers, „erträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles.“

Während die Hoffnung über viele Jahrhunderte eher etwas für Theologen und fromme Kirchengänger war, bemächtigen sich später vor allem die Dichter und Denker ihrer Schwingen, um sich über die profane Realität der irdischen Verhältnisse zu erheben. „O Hoffnung! holde! gütiggeschäftige! / Die du das Haus des Trauernden nicht verschmähst“, dichtet Friedrich Hölderlin um 1800 in seinen Nachtgesängen, als er den Glauben an eine gesellschaftliche Umwälzung in Deutschland längst aufgegeben hat und sich bereits auf dem verzweifelten Weg in die geistige Umnachtung befindet. Hölderlin blieben nach seinem Abschied von der Welt noch knapp vierzig Jahre, die er in dem heute nach ihm benannten Turm in Tübingen in Isolation und Einsamkeit zubrachte. Aber im Klagegesang des Hoffnungslosen war zu jener Zeit zumindest noch ein letztes Quantum Trost zu finden.

Für Immanuel Kant, den großen Weltweisen aus Königsberg, gehört die Frage „Was darf ich hoffen?“ zu den vier großen Fragen der Philosophie. Er spricht zur gleichen Zeit, als Hölderlin seinen Rückzug in die Innerlichkeit antritt, sogar von einer moralischen Pflicht zu hoffen. Nur wenn wir auf ein künftiges Leben, in dem wir für unsere diesseitigen Taten bestraft oder belohnt werden, hoffen dürfen, so predigt Kant vom allzu irdischen Katheder, können wir vernünftigerweise auch davon ausgehen, dass nicht alles, was wir auf Erden getan haben, vergeblich war. Ohne Hoffnung kein Antrieb für moralisches Handeln. Und ohne moralisches Handeln keine Freiheit.

Und dennoch stellt sich angesichts dieser ultimativen Appelle und Imperative die Frage, was uns eigentlich dazu berechtigt, uns an die hehren Worte der Hoffnung zu klammern, wenn ein Land in Europa von einem grausamen Krieg heimgesucht wird, der mit einer unmenschlichen Brutalität Abertausende von Opfern fordert, Städte dem Erdboden gleichmacht und einen ganzen Kontinent mit Furcht und Schrecken überzieht. Wenn uns die Sprache für all das fehlt. Für das Plündern und Morden und Brandschatzen. Wenn jeder Fetzen Optimismus an der blutigen Wirklichkeit russischer Panzer und Bomben zuschanden wird. Ist es nicht wohlfeil, über Hoffnung dies- und jenseits unserer eigenen Moralvorstellungen zu räsonieren, wenn das Undenkbare, die Katastrophe, bereits stattfindet? Und wenn geschehen ist, was, wie Hannah Arendt einmal sagte, „nie hätte geschehen dürfen“? In Butscha. In Mariupol. Und anderswo. Eine Barbarei, jetzt wieder. Hier, direkt vor unseren Augen.

Die Schulter unter der zusammenbrechenden Welt

Der amerikanische Philosoph Jonathan Lear hat über genau diese Frage nachgedacht. In seinem – in den USA bereits 2006 erschienenen, aber erst vor zwei Jahren ins Deutsche übertragenen – Buch Radikale Hoffnung schildert Lear das Schicksal der Crow, eines nordamerikanischen indigenen Volkes, das zu Beginn der 1880er-Jahre alles verliert: sein angestammtes Siedlungsgebiet in den Great Plains von Montana, seine Büffelherden, seine komplette kulturelle Identität. Ehre, Ideale, die Stellung in der Gemeinschaft, all diese Dinge bedeuten nach der Vertreibung nichts mehr: „Als die Büffelherden verschwanden, fielen die Herzen meiner Leute zu Boden, und sie konnten sie nicht mehr aufheben. Danach ist nichts mehr geschehen“, sagte Plenty Coups, der letzte Oberhäuptling des Volks der Crow, Jahrzehnte später, kurz bevor er starb, über den „Kampf der Kulturen“ gegenüber einem weißen Mann. Der Einzug ins Reservat stellte einen unwiderruflichen Einschnitt für den Stamm dar, eine Zäsur. Und dennoch vertrauten die Crow im Stillen darauf, dass sie eines Tages zu alter Stärke zurückfinden könnten. Ihre Geschichte war zwar beendet, aber ihre Hoffnung, aus der Rückschau werde sich darin bestimmt auch etwas Gutes erweisen, lebte weiter.

Radikale Hoffnung erwächst für Lear aus solchen Momenten der äußersten Ohnmacht. Situationen, in denen uns das Ziel abhandengekommen zu sein scheint und wir nicht wissen, wohin und wozu, und trotzdem – hoffen. Radikale Hoffnung, so sagt er, bestehe in der Hoffnung darauf, dass etwas Gutes hervortreten wird, „selbst wenn man gegenwärtig noch nicht über die Begriffe verfügt, mittels derer man sich dieses Gute verständlich machen kann“. So zumindest hat es Lear, dessen jüdische Vorfahren in den 1880er-Jahren selbst aus der Ukraine und anderen Teilen Osteuropas fliehen mussten, den Überlieferungen der Crow entnommen: Nach ihrer Auffassung hieß hoffen, anzuerkennen, dass es Möglichkeiten gab, die über alles Vorstellbare hinausgingen und zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht existierten. Und es sollten tatsächlich auch wieder andere Zeiten für die Crow kommen: Der radikale Schritt, sich eine ganz andere Zukunft vorzustellen, sicherte ihr Überleben.

„Es gibt immer Menschen, die ihre Schulter unter die zusammenbrechende Welt stemmen“, schrieb der Auschwitz- und Buchenwald-Überlebende und spätere ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész einmal, als sich die Höllenpforten längst aufgetan hatten und Dantes Forderung, alle Hoffnung fahren zu lassen, wie eine jener zynischen Inschriften klang, die in großen Lettern an den eisernen Eingangstoren der deutschen Konzentrationslager prangten. Dantes Inferno, so schien es, war zur grauenvollen Realität für die Menschheit geworden.

Und dennoch ließ sich Kertész, dem erst mit seinem 1996 in einer neuen deutschen Übersetzung erschienenen Roman eines Schicksallosen der weltweite Durchbruch gelang, in seiner Hoffnung auf die anderen partout nicht beirren. Denn zu den von ihm gemeinten „Menschen“ gehörten eben nicht nur die jetzt lebenden Zeitgenossen, sondern auch die großen Untoten der Vergangenheit. Es war das geistige Reich der Kunst, der Literatur und der Musik, jenes ewige, nicht abreißen wollende Gespräch über die Abgründe der Zeitläufte hinweg, dem er sich auch nach den Erfahrungen des Lagers und dem Zivilisationsbruch der Schoah verbunden wusste. Und während draußen vor der Tür bald ein kommunistisches Regime das Sagen übernehmen sollte, saß Kertész, jahrzehntelang völlig isoliert und von niemandem beachtet, in der Küche seiner kleinen Budapester Wohnung – und schrieb.

Auch diese Form der radikalen Hoffnung auf kommende Zeiten vermag so wenig wie die Hoffnung des Apostels Paulus oder die utopische Hoffnung Blochs den Gang der Geschichte auf magische Weise umzukehren. In ihr zeigt sich aber, dass die stärkste und zugleich älteste Form des Zukunftsglaubens noch immer jene ist, die das Unmögliche an seinem fliehenden Schopf zu packen sucht und sich nicht eher zufriedengibt, als bis sich plötzlich und unerwartet ein Ausweg aus der Misere zeigt. Ohne Netz und doppelten Boden. Ohne jede Form von Garantie. Schon die Antike sprach mit Heraklit davon, dass nur, wer das Unverhoffte erhoffe, es auch finden könne. Und ist nicht auch Ostern, dieses Fest der Auferstehung Christi, eine Geschichte darüber, wie mit der Hoffnung auf den nächsten Tag, auf die „Morgenröte“, selbst das größte Übel, der Tod, besiegt werden kann?

Es gibt übrigens noch eine andere Version jenes Mythos von der unheilvollen Büchse der Pandora. Eine mit einem helleren Ausgang. Nach dieser anderen, zweiten Fassung wird die Büchse ein weiteres Mal geöffnet. Und dieses Mal ist die Hoffnung nicht so ungeschickt und bleibt am Boden des Gefäßes hängen, sondern fliegt mit hinaus. Fort, ins Offene. Und als die Büchse später wieder geschlossen wird, ist die Hoffnung längst in der Welt.